Resilienz wird zum Wachstumstreiber

Wie Unternehmen Lieferketten gegen geopolitische Risiken stärken

Resilienzstrategien verbinden schnelle Reaktion und strukturelle Prävention, um Lieferketten gegen Handelskonflikte, Klimarisiken und Abhängigkeiten bei seltenen Erden zu sichern.

Bild: iStock, Bet_Noire
10.12.2025

Geopolitische Konflikte, Klimarisiken und neue Exportauflagen belasteten im Jahr 2025 die globalen Lieferketten. Unternehmen wie BMW, Renault und Kärcher zeigen, wie Prävention und eine schnelle Reaktion die Resilienz stärken können. Daten belegen: Resilienz treibt Wachstum.

Die globale Wirtschaft kommt nicht zur Ruhe: Das Jahr begann mit den sogenannten „Trump-Zöllen“ und endet in einem eskalierenden globalen Handelskrieg, der insbesondere durch extraterritorial wirkende Auflagen der chinesischen Regierung für seltene Erden geschürt wird. Demnach benötigt jedes Produkt, das zu mindestens 0,1 Prozent seines Wertes chinesische Materialien aus seltenen Erden enthält, nun faktisch eine Genehmigung. Dies könnte massive Verwerfungen in der Weltwirtschaft auslösen, vor allem in der Herstellung und im Handel von Halbleitern. Erste Folgewirkungen sind bereits spürbar: Betroffen sind Schlüsselbranchen wie die Elektromobilität, die Windkraftindustrie und die Verteidigungsindustrie. Dieser Protektionismus könnte eine Marktsegmentierung erzwingen und zu einer Spaltung in „China-interne“ und „China-freie“ Lieferketten führen.

Lieferketten unter Druck

Wenn geopolitische Spannungen die Lieferketten zermürben, ist eine ganzheitliche Resilienzstrategie gefragt, um die Geschäftskontinuität zu wahren. Die aktuelle Risikolandschaft erfordert von Unternehmen ein Zusammenspiel zwischen Antizipation und Reaktion. Indem sie Resilienz in zwei Dimensionen aufbauen, stellen Unternehmen sicher, dass sie sowohl auf die Realisierung bekannter Risiken vorbereitet sind als auch in der Lage sind, unerwartete „Black-Swan“-Ereignisse zu bewältigen.

Diese beiden Dimensionen sind:

  • Operationale Reaktionsgeschwindigkeit (Fast-Time-to-Response): Die Exekution während der Krise. Bei unvorhersehbaren Ereignissen (sogenannten „Black-Swan“-Events) ist die Time to Recovery entscheidend: also eine möglichst geringe Zeitspanne zwischen dem Ereignis selbst (zum Beispiel einem Erdbeben), der Kenntnisnahme (Time to Know) und der eingeleiteten Gegenmaßnahme (Time to Act). Eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit verschafft Unternehmen einen klaren Wettbewerbsvorteil. Sie reduziert nicht nur die Verluste durch Störungen – Produktionsstillstände können Automobilhersteller bis zu 22.000 Dollar pro Minute kosten –, sondern wird zunehmend zu einem wichtigen Differenzierungsmerkmal im Markt.

  • Strukturelle Prävention (Proactive Resilience): Eine umsichtige Architektur der Lieferkette vor der Krise schafft Handlungsoptionen durch strategische Redundanzen – etwa qualifiziertes Multi-Sourcing für kritische Komponenten oder geographisches De-Risking. Im Fall chinesischer Exportkontrollen können solche Maßnahmen auch Nearshoring- oder Friendshoring-Strategien umfassen. Diese Investitionen, die vor dem Schadensereignis getätigt werden müssen, verschaffen Unternehmen im Krisenfall mehr Flexibilität. Als Entscheidungsgrundlage dient dabei nicht nur die abstrakte Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses. Ausschlaggebend ist vielmehr der potenzielle Revenue at Risk, der Risikomanagement-Prioritäten nicht nach ihrer Wahrscheinlichkeit, sondern nach ihrem möglichen Umsatzverlust bewertet.

KI als Frühwarnsystem

Mit ihren umfangreichen Analyse- und Simulationsfähigkeiten hat KI das Potenzial, Unternehmen in beiden Dimensionen der Resilienz wirksam zu unterstützen. Um die Reaktionszeit zu verkürzen, scannen moderne KI-Systeme täglich Millionen Datenpunkte – von Finanzberichten und regionalen Nachrichten bis hin zu Bill-of-Lading-Daten und Social-Media-Posts – um in Echtzeit Frühwarnsignale zu erkennen. Der Mehrwert der Algorithmen geht dabei über die reine Datenaggregation hinaus. Nach dem Prinzip „Nichts verpassen. Not too much. As fast as possible.“ filtern KI-Risikomanagementsysteme 99 Prozent des „Rauschens“ heraus, um nur die relevanten, verifizierten Warnsignale an den Einkäufer zu melden.

Allerdings setzt echte Resilienz – insbesondere in ihrer proaktiven Form – Transparenz über alle Ebenen der Lieferkette voraus, von den Rohmaterialien bis zur Produktion. Angesichts der Komplexität der Lieferketten ergab eine McKinsey-Studie, dass 45 Prozent der Unternehmen keinen Einblick in ihre vorgelagerten Lieferketten haben und 83 Prozent jenseits von Tier 2 „blind“ sind. Das bedeutet, dass das größte Risiko oft in der Tiefe der Lieferkette bei Unterlieferanten (Tier-N) schlummert, von deren Existenz OEMs oft nichts wissen.

KI-gestützte Software kann diese Informationslücken durch prädiktive Modellierung überbrücken, indem sie Muster und wahrscheinliche Verknüpfungen zwischen Lieferanten erkennt. So lassen sich versteckte Abhängigkeiten und Cluster-Risiken durch mangelnde Diversifikation der Lieferkette identifizieren – etwa, wenn fünf scheinbar unabhängige Tier-1-Lieferanten alle denselben Rohstofflieferanten in einer erdbebengefährdeten Region nutzen. Wenn Unternehmen solche strukturellen Verwundbarkeiten mithilfe von Szenarioplanung bereits vor dem Eintritt einer Krise angehen, können sie Lieferketten aufbauen, die besser für das zunehmend volatile globale Umfeld gerüstet sind.

Resilienz hebt Wachstumspotenziale

Zu den strategischen Gegenmaßnahmen zählt dabei ein Dual- oder Multi-Sourcing für wichtige Rohstoffe und Komponenten, um die Abhängigkeit zu reduzieren. Bei kritischen Rohstoffen wie seltenen Erden genügt jedoch eine bloße Diversifizierung nicht. Statt die Abhängigkeiten lediglich zu verlagern, versuchen BMW und Renault beispielsweise, diese durch technische Substitution zu eliminieren. Dazu skalieren diese OEMs den Einsatz magnetfreier Motoren, um den Bedarf an Neodym und Dysprosium an der Quelle zu senken.

Während früher die Kosteneffizienz die Standortwahl prägte, setzen Unternehmen in der Omnikrise zudem verstärkt auf Versorgungssicherheit. Laut Capgemini priorisieren inzwischen 73 Prozent der Führungskräfte Friend-Shoring (Produktion in stabilen Partnerländern) und Near-Shoring (Produktion in Marktnähe), um logistische Risiken und Zölle strukturell zu minimieren.

Unternehmen, die durch die Kombination aus umsichtiger Lieferkettenpolitik und digitaler Reife Resilienz aufgebaut haben, können sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. So konnte der Reinigungstechnik-Hersteller Kärcher durch KI-gestützte, proaktive Risikoprävention seinen ROI für Resilienz-Maßnahmen verzwölffachen. Eine Analyse von Accenture zeigt, welchen Wert Resilienz tatsächlich stiftet: Resiliente Unternehmen realisieren in der aktuellen globalen Volatilität ein um 3,6 Prozent höheres jährliches Umsatzwachstum als der Markt.

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