Der Fach- und Arbeitskräftemangel stellt den deutschen Arbeitsmarkt heute schon vor große Herausforderungen. Aufgrund der sich wandelnden Altersstruktur der Bevölkerung wird dieses Problem weiter zunehmen. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hat im Rahmen aktueller Forschungsprojekte beispielhafte Ansätze ermittelt, mit denen sich der demografisch bedingte Rückgang an Erwerbspersonen auffangen ließe. Ausgehend von verschiedenen Szenarien zeigen die Forschenden auf, welche konkreten Potenziale es gibt und wie diese zur Stabilisierung des Arbeitskräfteangebots beitragen können.
Erwerbspersonenpotenzial wird demografisch bedingt sinken
„Mit dem Übergang der geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre in den Ruhestand wird sich die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 67 Jahren deutlich reduzieren“, erklärt Prof. Dr. C. Katharina Spieß, Direktorin des BiB. Aktuellsten Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamts zufolge sinkt die Zahl der Erwerbspersonen von heute 51 Millionen auf 48 Millionen im Jahr 2040. „Eine zentrale Frage für die weitere wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands wird somit sein, wie wir den demografisch bedingten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials durch ein steigendes Erwerbsvolumen auffangen oder gar ausgleichen können.“
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Eine szenariobasierte Vorausberechnung des BiB zeigt: Ohne Veränderungen bei der Erwerbsbeteiligung wird das Arbeitsvolumen in Deutschland bis 2035 deutlich sinken. Selbst eine sehr hohe Nettozuwanderung von jährlich über 450.000 Personen könnte unter Beibehaltung des Status quo den Rückgang bis 2035 nicht vollständig verhindern. Es bestehen jedoch Handlungsspielräume: Ein höheres Erwerbsvolumen von Frauen, vor allem in Westdeutschland, könnte den Rückgang um bis zu 2,6 Prozentpunkte dämpfen. Steigen zudem die Erwerbsumfänge der über 55-Jährigen, ließe sich das Minus je nach Annahmen um weitere 3,2 bis 4,1 Prozentpunkte reduzieren. „Mehr Erwerbstätigkeit von Frauen sowie von Älteren könnte den Rückgang spürbar abfedern“, fasst Spieß die Ergebnisse zusammen.
Steigerungspotenzial besteht vor allem bei Müttern
Wie Daten des Familiendemografischen Panels FReDA zeigen, liegt die als ideal angesehene Arbeitszeit von Müttern mit minderjährigen Schulkindern deutlich über der tatsächlichen Arbeitszeit – im Schnitt um 5 bis 6 Stunden pro Woche. Würde das Ideal zur Realität, entspräche das einem Plus von rund 645.000 Vollzeitstellen. Väter von jüngeren Kindern hingegen arbeiten im Schnitt 3 bis 4 Stunden mehr, als Ideal angesehen wird. Würde auch hierbei das Ideal an die Realität angepasst, entspräche das rechnerisch einem Minus von 320.000 Vollzeitstellen. Unterm Strich ergäbe sich ein Plus von 325.000 Vollzeitäquivalenten. Mit zusätzlichem Potenzial, wenn auch Mütter mit erwachsenen Kindern ihre Arbeitszeit ausweiten könnten. Diese Idealvorstellungen zu realisieren, ist zwar nicht leicht und nur hypothetisch möglich, verdeutlicht aber die großen Potenziale für den Arbeitsmarkt und könnte gleichzeitig zum Wohlbefinden von Eltern beitragen.
Die Verfügbarkeit von Kindertagesbetreuung ist ein entscheidender Faktor für die Erwerbsbeteiligung von Müttern. Insbesondere für Kinder unter drei Jahren mangelt es trotz zuletzt sinkender Geburtenzahlen weiterhin an ausreichenden Betreuungsangeboten. Laut Ergebnissen der Kinderbetreuungsstudie (KiBS) hat jede fünfte Familie mit Kindern zwischen einem und unter drei Jahren keinen Kita-Platz, obwohl Bedarf besteht. Ein hoher, bislang ungedeckter Bedarf besteht insbesondere bei Müttern, die nicht erwerbstätig sind oder in Teilzeit arbeiten. Berechnungen des BiB zeigen: Würden alle Familien, die einen Kita-Platz wünschen, auch einen erhalten, könnte die Erwerbsquote von Müttern mit Kindern im Alter von ein bis unter drei Jahren um bis zu elf Prozentpunkte steigen. Das Erwerbspotenzial ist besonders groß bei ressourcenschwächeren Familien, da hier der ungedeckte Bedarf nach einem Kita-Platz besonders hoch ist und vielfach Erwerbswünsche vorhanden sind.
Zugewanderte aus der Ukraine mit Erfahrungen in Engpassberufen
Auch in der Gruppe der Zugewanderten gibt es erhebliche Potenziale, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Exemplarisch zeigt die BiB-Forschung dies an den aus der Ukraine vor dem russischen Angriffskrieg schutzsuchenden Menschen. Mit rund 1,1 Millionen stellen sie eine bedeutende Zuwanderergruppe in Deutschland dar. Ihre Integration in den Arbeitsmarkt hat in den vergangenen Monaten zugenommen. Von den bis Sommer 2022 nach Deutschland gekommenen Schutzsuchenden waren im vierten Quartal 2022 rund 43 Prozent erwerbstätig; mittlerweile ist der Anteil auf etwa 50 Prozent angestiegen. Ein zentrales Hindernis für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sind jedoch die fehlenden Sprachkenntnisse. 92 Prozent derjenigen, die aktuell nicht nach einer Arbeitsstelle suchen, begründen dies mit laufenden Sprachkursen oder unzureichenden Deutschkenntnissen. Weitere 37 Prozent verweisen auf die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen sowie auf die baldige Rückreise in die Ukraine (34 Prozent).
Dennoch bietet diese Bevölkerungsgruppe großes Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt: Rund die Hälfte der ukrainischen Schutzsuchenden verfügt über Berufserfahrung in sogenannten Engpassberufen, insbesondere in Pflege- und Gesundheitsberufen sowie im Handwerk. Diese Tätigkeiten zählen bereits heute zu den Bereichen mit erheblichem Fachkräftemangel in Deutschland. In Kombination mit einem weiterhin bestehenden Weiterbildungsbedarf, insbesondere im Bereich der Sprachförderung, bedeutet dies ein weiteres Potenzial für den Arbeitsmarkt in der Zukunft.
Neue Erwerbspotenziale bei Älteren
Um die Erwerbspotenziale älterer Menschen besser abschätzen zu können, ist die Planung des Erwerbsaustrittsalters von zentraler Bedeutung. Aus Analysen des Deutschen Alterssurveys (DEAS) geht hervor, dass das geplante Erwerbsaustrittsalter bei Männern des Jahrgangs 1955 durchschnittlich etwa 63 Jahre betrug; für den Jahrgang 1970 ist es auf 65 Jahre angestiegen. Bei Frauen erhöhten sich die Vergleichswerte von knapp 63 auf 65 Jahre. Damit liegt das geplante Erwerbsaustrittsalter bei den geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer im Schnitt zwei bis drei Jahre unterhalb der gesetzlichen Regelaltersgrenze.
Neben klassischen Faktoren wie Gesundheit, Einkommen, Ausbildung, Arbeitsmarktlage oder gesetzlichen Vorgaben spielt die persönliche Einschätzung der eigenen Lebensdauer eine wichtige Rolle für den geplanten Ruhestand. Menschen, die ihr Leben als kürzer einschätzen, planen ihren Ausstieg aus dem Erwerbsleben im Durchschnitt rund ein Jahr früher als Personen, die eine realistischere oder längere Lebensdauer erwarten. Besonders betroffen sind ältere Frauen: Sie arbeiten häufiger in Teilzeit und tendieren stärker als Männer dazu, ihre Lebenserwartung zu unterschätzen. Eine realistischere Selbsteinschätzung könnte daher gerade bei Frauen zusätzliche Erwerbspotenziale erschließen.
„Das Erwerbspotenzial der in Deutschland lebenden Männer und Frauen ist noch lange nicht ausgeschöpft“, fasst Spieß zusammen. Gerade bei Frauen, und hier insbesondere bei Müttern, bestehen erhebliche Spielräume, die etwa durch ungedeckte Bedarfe bei der Kindertagesbetreuung eingeengt werden. Auch bei Frauen mit Zuwanderungsgeschichte können durch vereinfachte Anerkennung von Berufsabschlüssen zusätzliche Chancen erschlossen werden. Schutzsuchende aus der Ukraine bringen zudem Qualifikationen mit, die in vielen Engpassberufen dringend gebraucht werden. Darüber hinaus eröffnen eine steigende Lebenserwartung und unterschiedliche Pläne zum Renteneintritt Möglichkeiten für eine längere Erwerbstätigkeit. Maßnahmen, die die verschiedenen skizzierten Potenziale fördern, können dabei helfen, die Arbeitsmarktintegration zu stärken und Fachkräftelücken nachhaltig zu reduzieren.