Die Wasserbranche von morgen „Hebel: Digitalisierung und Automatisierung“

Anja Eimer, General Manager Global Water Business bei Siemens, ist sich sicher: „Digitalisierung und Automatisierung sind die wichtigsten Hebel für Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Dekarbonisierung.“

Bild: Siemens
17.03.2023

Die Digitalisierung in der Wasserwirtschaft ermöglicht effizientere und nachhaltigere Prozesse für neue sowie bestehende Anlagen. Anja Eimer, General Manager Global Water Business bei Siemens, sprach mit der P&A über zuverlässige Technologien, die den Anlagenbetreiber auf den Weg zu einer nachhaltigen Wasserver- und Abwasserentsorgung unterstützen. Immerhin ist Wasser unsere wichtigste Lebensgrundlage.

Im Zuge des Ukrainekrieges sprechen alle von Energieknappheit, aber gefühlt erwähnt niemand das Thema Wasserknappheit – oder täuscht das?

Das Thema muss differenziert betrachtet werden. Die Wasserverfügbarkeit in Deutschland ist, historisch gesehen, hoch, allerdings gibt es auch bei uns regionale Unterschiede im Wasserangebot, teilweise mit lokalen Engpässen, beispielsweise in Franken. Hier spielt auch mit hinein, dass die Niederschlagsmengen in den vergangenen Jahren weniger geworden sind. Ich persönlich meine, dass das Thema in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren schon an Wahrnehmung gewonnen hat; dies ist auch notwendig, um die Sensibilität in der Bevölkerung zu stärken. Ein anderes Bild herrscht in Südeuropa oder im Nahen Osten: In diesen Regionen steht die Wasserindustrie mehr im öffentlichen Fokus, da dort die Wasserknappheit leider ein ständiges Thema ist.

Bis 2050 sollen alle Menschen weltweit Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen haben. Wie ist Ihre Einschätzung: Ist dies realisierbar?

Die UNO hat das klare Ziel gesetzt, weltweit die Verfügbarkeit und die Bewirtschaftung von Wasser und sanitären Einrichtungen bis 2050 sicherzustellen. Aktuell sieht es aber nicht aus, als wenn dieses Ziel erreicht werden könnte. Um weltweit alle Menschen bis 2050 mit sauberem Trinkwasser versorgen zu können, müssten die Anbieter ihr aktuelles Tempo verdoppeln. Dies bezieht sich nicht nur auf die Trinkwasser-, sondern auch auf die Abwasserversorgung: Hier ist die Lücke zur Zielerreichung sogar noch viel höher – das Tempo muss laut aktuellen Studien sogar vervierfacht werden.

Womit wird dies begründet?

Es gibt verschiedene Herausforderungen, die sich in den letzten Jahren verstärkt haben. So haben mit dem Klimawandel Starkregenereignisse und Wasserknappheiten zugenommen. Erstere führen zum einen zu Wasserverunreinigung, zum anderem wird das Abwassersystem stark überlastet. Ein weiterer Grund sind die aktuellen geopolitischen Unruhen. Investitionsgelder, die für die Infrastruktur benötigt werden, fehlen somit. Natürlich ist auch der Fachkräftemangel ein Thema; gleichzeitig nimmt die Urbanisierung zu, was auch wiederum zu einer Verschiebung der Bevölkerungsstrukturen führt. Vereinfacht gesagt: Die Versorger müssen Wege finden, um mehr mit weniger zu erreichen.

Wie schwer tun sich die Wasserversorger damit?

Die Versorger sind kostenoptimierend aufgestellt. Der Spielraum ist somit begrenzt, da die Wasserbetreiber auf neue Investitionspakete angewiesen sind. Leider hat das Thema Wasser, beispielsweise in Deutschland, keine hohe Präsenz in der Politik. Ich persönlich würde mir ein separates Ministerium für Wasser wünschen, nicht nur ein Umweltministerium. So würde das Thema die notwendige Aufmerksamkeit erlangen, die es tatsächlich in der heutigen Zeit benötigt.

Was sind die größten Herausforderungen für die Wasserbranche?

Ein Trend, der die Wasserbranche schon länger beschäftigt, ist der Fachkräftemangel. Vor allem für den Nachwuchs muss die Branche wieder attraktiver werden; hier kann die digitale Transformation einen entsprechenden Anreiz schaffen. Ein weiterer Trend ist eine stärkere Verknüpfung der Land- und Wasserwirtschaft. Auch auf politischer Ebene wird deutlich, dass die Themen nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Immerhin ist die Landwirtschaft der größte Wasserverbraucher, im Abwasserbereich gleichzeitig aber auch ein Hauptverursacher für Verschmutzungen. Letzteres stellt deshalb in der neuen nationalen Wasserstrategie ein großes Thema dar, unter anderem die herstellergerechte Einbeziehung in die Abwasserreinigung, Stichwort vierte Reinigungsstufe.

Inwieweit kann Siemens mit seinen Lösungen die Wasserindustrie auf ihrer Reise zu Wasser 4.0 unterstützen?

Im Kontext Wasser 4.0 haben wir die Leitung eines Arbeitskreises bei der German-Water-Partnership inne, in dem wir uns speziell mit der Forschung zu digitalen Zwillingen in der Wasserindustrie beschäftigen. Ein Thema, das auch in der Wasserindustrie immer wichtiger wird, ist BIM-Modelling. Hier werden ab der frühesten Planungsphase jegliche Planungsdaten in ein digitales Modell erfasst. Mit Hilfe dieses digitalen Modells kann schon in der Engineeringphase die komplette Anlage, oder auch nur ein Prozess in der Wasseranlage, optimiert werden. Die Daten können aber auch durchgängig während des Betriebes verwendet werden, um so weitere Optimierungen beziehungsweise effizientere Prozesse zu erzielen.

Digitale Zwillinge sind einer der Schlüssel zur nachhaltigen Wasserwirtschaft…

Genau. Hierfür muss eine durchgängige Datenstruktur vorhanden sein, was leider oft nicht der Fall ist. Speziell die Wasserindustrie ist aber hier noch traditionell gestrickt - teilweise sind die Anlagen oder ist die Infrastruktur auch schon Jahrzehnte alt. Die Daten sind, wenn überhaupt, somit nur in Papierform verfügbar. Diese digital zu erfassen und nutzbar zu machen, ist ein Riesenaufwand. Die Wasserindustrie befindet sich deshalb auf ihrer Reise auf dem Weg zu Wasser 4.0 noch am Anfang.

Für wen eignet sich der digitale Zwilling als Lösung?

Der digitale Zwilling ist nicht für jede kleinste Anlage geeignet. Vieles hängt von der Frage ab, was die hauptsächliche Herausforderung der einzelnen Anlage ist, was letztlich optimiert werden soll. Wir bieten bei Siemens unterschiedliche Lösungen an. Ich kann einen voll umfänglichen digitalen Zwilling, beispielsweise ein 3D-Model einer Kläranlage, anwenden. Wir haben aber auch Applikationslösungen im Angebot, die auch kleinere Anwendungsfälle zulassen. Hier ist nicht so ein hohes Investitionsvolumen, wie bei einem voll umfänglichen digitalen Zwilling, nötig.

Künstliche Intelligenz ist der zweite Schlüssel für die Wasserindustrie von morgen. Welche Anwendungsszenarien gibt es hier genau?

Hier gibt es eine Vielzahl an Anwendungsszenarien, zu denen wir bereits Projekte umgesetzt und Technologien im Portfolio haben. Ein Beispiel ist die Vorhersage von zukünftigen Anlageausfällen, zum Beispiel bei Ventilen oder Pumpen, sowie das Vermeiden von Verstopfungen im Abwassernetz. Mit analytischer Intelligenz kann man so für vorausschauende Wartung und erhöhte Effizienz sorgen. Aber auch beim Überprüfen der Wasserqualität bezüglich Chlor- und pH-Werte kommt KI zum Einsatz. Ein weiteres Thema ist die Leckage-Erkennung: Deutschland betrifft dies aufgrund unserer guten Netzinfrastruktur weniger, aber in anderen Regionen gehen bis zu 70 Prozent des aufbereiteten Trinkwassers aufgrund von Leckagen verloren. Mit unserer Technologie können diese schnell identifiziert sowie Anomalien auf Basis von Durchfluss- und Druckdaten erkannt werden. Wir können hier aber auch einen Schritt weitergehen: Wir haben Algorithmen entwickelt, die dem Wassernetzbetreiber eine Einschätzung geben, welche der Leckagen beispielsweise aufgrund ihrer Größe schnell repariert werden müssen – alles vor dem Hintergrund, wo der eingesetzte Euro am meisten Beitrag bringt.

Wie wird die KI bisher in der Wasserindustrie aufgenommen?

Künstliche Intelligenz wird als Zukunftspotential angesehen, dennoch tut man sich auf Basis von unterschiedlichen Faktoren schwer: Zum einen spielt hier der Fachkräftemangel eine Rolle. KI findet in verschiedenen Industrien Anwendung, die kritische Ressource von Data-Scientists benötigt jedes Unternehmen – der Markt ist hier allerdings leer. Wie erwähnt, genießt die Wasserbranche vor allem beim Nachwuchs nicht die Top-Priorität. Die Wasserindustrie ist zum anderen aber auch eine Branche, die zur kritischen Infrastruktur gehört - Vorbehalte bezüglich neuer Technologien sind hier hoch vertreten.

Die Wasserindustrie in Deutschland setzt sich aus vielen Kleinstbetreibern zusammen. Auch dies ist für die Einführung neuer Technologien eher hinderlich, könnte ich mir vorstellen, oder?

Richtig. Künstliche Intelligenzsysteme müssen erst mit einer Vielzahl an Datenmengen trainiert werden, bevor sie tatsächlich angewendet werden können. In Deutschland haben wir über 20.000 Wasserbetreiber mit Kleinstbetreibern, für die es schwierig werden wird, künstliche Intelligenz anzuwenden. Denn oft sind die Datenmengen nicht vorhanden und der Transfer eines künstlichen Intelligenzmodells von einem Wasserbetreiber auf einen anderen ist aufgrund des Themas Sicherheit schwierig. Deshalb bin ich überzeugt, dass sich die Wasserbranche mit alternativen Lösungen auseinandersetzen muss. Meiner Ansicht nach ist eine gemeinsame Plattform von Versorgern, um die Kräfte zu bündeln, die Zukunft.

Industrie 4.0 hat gezeigt, dass dieses Thema nicht jedes Unternehmen für sich angehen kann. Letztendlich geht es darum, dass man sich zusammenschließt, Zusammenarbeit stattfindet, Kooperationen geschaffen werden, um voranzukommen.

Genau. Als Beispiel nenne ich hier immer die Catena-X, das erste kollaborative, offene Datenökosystem für die Automobilindustrie der Zukunft. Dies ist meines Erachtens ein Modellprinzip, das auch in der Wasserbranche Zukunft haben könnte. Dies wäre gegebenenfalls auch komplett auf die gesamte Infrastruktur übersetzbar - es müsste also nicht nur für die Wasserbranche allein gelten. In der Energie- und Wasserversorgung gibt es immerhin die gleichen Herausforderungen, beispielsweise CO2-Neutralität.

Gibt es denn in diese Richtung schon Überlegungen in der Wasserbranche?

Die Frage ist, was man unter dem Begriff Plattform versteht. Eine IT-Plattform, an die sich viele verschiedene Betreiber andocken, gibt es bisher noch nicht. Eine Plattform im Sinne eines Ökosystems, in der sich unterschiedliche Betreiber oder Mitspieler in der Wasserbranche austauchen, gibt es hingegen schon: beispielsweise in Form von Verbänden, in denen man sich organisiert und über bestimmte Themen diskutiert, gemeinsam Konzepte entwickelt und sich bezüglich Herausforderungen oder Lösungsideen austauscht. Es ist aber tatsächlich noch ein Schritt, dies in konkrete technische Lösungen zu übersetzen – dies muss noch angegangen werden.

Werfen wir zum Abschluss nochmal einen Blick in die Zukunft. Meinen Sie, wir können irgendwann von einer 100 Prozent digitalen Wasserwirtschaft sprechen?

Eine vollumfängliche digitale Wasserwirtschaft ist eine Vision, die ich begrüßen würde. Der Weg dahin ist aber noch weit, weil die Wasserindustrie eine sehr kleinteilige Branche ist. Jede Anlage ist für sich spezifisch anders, gleichzeitig ist ein hohes Investitionsvolumen notwendig. Außerdem wird es immer schwieriger, gut qualifiziertes Fachpersonal zu finden. In der Realität gehe ich deshalb davon aus, dass zunächst der Automatisierungsgrad weiter steigen wird und eine höhere IT-/OT-Durchdringung stattfinden wird. Die eingesetzten Systeme werden wesentlich für Entlastung der Mitarbeiter sorgen: Die intuitive Bedienung wird stärker in den Vordergrund rücken, sodass beispielsweise Wartungen mittels mobiler Geräte vorgenommen werden können. Diese oftmals einfachen Themen steigern gleichzeitig die Attraktivität des Arbeitsplatzes signifikant. Die Akzeptanz für digitale Lösungen wird allerdings auch sehr stark vom Thema Sicherheit abhängen. Für mich persönlich sind die Digitalisierung und Automatisierung die wichtigsten Hebel für Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Dekarbonisierung.

Firmen zu diesem Artikel
Verwandte Artikel