Virtuelle Kraftwerke in Deutschland Einigkeit und Energiefreiheit

publish-industry Verlag GmbH

Bild: iStock, Perihelio
29.01.2018

Es geht nicht mehr ohne Vernetzung, warum also nicht auch Energiesysteme miteinander verknüpfen? Virtuelle Kraftwerke sind der wahr gewordene Traum einer gemeinschaftlichen Energiewende, zu deren Gelingen jeder einen Teil beitragen kann. Doch wie bei vielen Technologien, die scheinbar alle Energieprobleme auf einmal lösen, gibt es Hürden.

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Wer sich mit Energie beschäftigt, erlebt immer wieder Überraschungen. Wirft man zum Beispiel einen Blick in die Forschung, landet man schnell bei amüsanten Ansätzen: Erst vor kurzem haben US-Forscher entdeckt, dass mutierte Algen als Brennstoffzellen und biologische Solarzellen fungieren können.

Zugegeben, im Big Picture der Energiewende nehmen solche Erfindungen höchstens eine Nische ein. Aber oft genug werden aus ungewöhnlichen Ideen hilfreiche Ansätze für die Zukunft. Wer hätte zum Beispiel vor Jahren gedacht, dass ein Riese wie Toyota einmal verkündet, ein Kraftwerk im Megawattmaßstab mit Kuhdung zu füttern, um den Mist in Energie, Wasser und Kraftstoff umzuwandeln?

Kraftwerkswende von konventionell zu virtuell

Und doch ist ein solches Umdenken notwendig, denn es ist keine Überraschung, dass wir uns mitten in einer Kraftwerkswende befinden. Kohle- und Atomkraftwerke sind, zumindest hierzulande, ein Auslaufmodell. Das bekommen die Kraftwerksbetreiber genauso zu spüren wie ihre Zulieferer. Erst Ende 2017 strichen Siemens und General Electric tausende Stellen in ihren Power-Sparten in Deutschland. Einer der Gründe, warum konventionelle Kraftwerke nicht mehr zeitgemäß sind, ist der Strukturwandel in der Energielandschaft, getrieben von den Erneuerbaren.

Das Energiesystem der Zukunft braucht eine neue Generation von Kraftwerken: Virtuell sollen sie sein und die Dezentralität der Erneuerbaren sowie die fortschreitende Digitalisierung nutzen, um die Angst vor dem Blackout zu vertreiben. Das Prinzip dahinter ist einfach: Dezentrale Energieerzeuger, -verbraucher und -speicher aller Art – egal ob Biogasanlage, KWK-Anlage, Brennstoffzelle, Wasserkraftwerk, Photovoltaikmodul oder Windpark – werden digital zu einem Verbund zusammengeschlossen und zentral gesteuert.

Gemeinsam bringen die Anlagen nicht nur Stabilität ins Stromnetz. Sie lassen sich auch einfacher vermarkten als alleine. Denn mit der Teilnahme an einem Virtuellen Kraftwerk steht Anlagenbetreibern der Zugang zu verschiedenen Märkten offen: Sie können den Strom aus ihrer Anlage im Zuge der Direktvermarktung an der Strombörse handeln oder über den Regelenergiemarkt zur Stabilität im Stromnetz beitragen.

Soweit, so gut. Doch bereits in der Definition zeigen sich die Hürden des verlockenden Konzepts: Im Gegensatz zu früher, als einige Hundert Großkraftwerke den Löwenanteil der Energieerzeugung gestemmt haben, übersteigt die Zahl der Anlagen in Deutschland, die aus erneuerbarer Energie Strom und Wärme erzeugen, bereits die Millionengrenze. Diese Komplexität stellt hohe Anforderungen an die Kommunikations- und Steuerungstechnik innerhalb eines Virtuellen Kraftwerks.

Dezentrale Intelligenz birgt hohen IT-Aufwand

Die technischen Herausforderungen, vor denen Virtuelle Kraftwerke in Deutschland stehen, haben die Unternehmensberater von PricewaterhouseCoopers (PwC) in der Studie „Markt und Technik virtueller Kraftwerke“ von 2016 skizziert. Demnach gilt es, IT-Komponenten zusammenzubringen, die

  • integrationsfähig sind,

  • IT-Standards unterstützen,

  • eine hohe Performance und Reaktionsgeschwindigkeit bis hin zur Echtzeitverarbeitung bieten, und

  • in der Lage sind, wachsende Datenvolumen zu verarbeiten.

Ein Blick auf die Funktionsweise von Virtuellen Kraftwerken zeigt, warum aufeinander abgestimmte IT-Komponenten eine so große Rolle bei ihrem Betrieb spielen. Das Herzstück eines Virtuellen Kraftwerks bildet eine zentrale Plattform, die alle dezentralen Anlagen bündelt. Dieses Leitsystem steuert das Zusammenspiel der Anlagen und benötigt dafür ständig Informationen über deren Betriebszustände.

Jede Anlage innerhalb eines Virtuellen Kraftwerks muss also über eine eigene Intelligenz verfügen und über eine Kommunikationsschnittstelle mit dem Leitsystem verbunden sein. Außerdem benötigt das Leitsystem Prognose- und Marktdaten, denn von dort aus erfolgt neben der Steuerung der Anlagen auch die Vermarktung der erzeugten Energie. Es müssen also in verschiedene Richtungen und zu nahezu jeder Zeit Informationen über verschiedene Schnittstellen und Systeme zum Teil bidirektional ausgetauscht werden.

Chancen für neue
Marktteilnehmer

Forschung und Industrie haben bereits zahlreiche Projekte in Deutschland durchgeführt, um herauszufinden, wie Virtuelle Kraftwerke sich technisch umsetzen lassen und um ihre Machbarkeit unter Beweis zu stellen. Es zeigt sich, dass die infrastrukturellen Herausforderungen neue Marktrollen schaffen und den Markt für IT-Dienstleister öffnen. Laut PwC tummeln sich derzeit etwa 50 Unternehmen mit ihren Produkten und Dienstleistungen auf dem deutschen Markt für Virtuelle Kraftwerke – allen voran die Energieversorger, die hier ihr Wissen über Infrastruktur und Vermarktung einbringen können.

Lichtblick bietet beispielsweise unter der Marke Schwarmstrom eine Lösung zur Steuerung Virtueller Kraftwerke an. Auch Statkraft und Gasag haben bereits Erfahrungen mit dem Betrieb von Virtuellen Kraftwerken gesammelt. Procom bietet auf der anderen Seite Software zur Handelsoptimierung bei Virtuellen Kraftwerken und Kisters hat gleich eine komplette IT-Lösung für den Betrieb eines Virtuellen Kraftwerks entwickelt.

Zunehmend interessant könnte der Markt auch für IT-Dienstleister und -Technologien werden, die bisher wenig Berührungspunkte mit der Energiebranche hatten. So könnte der Handel über Modelle wie die Blockchain abgewickelt werden. Erste Erfahrungen damit sammeln derzeit Sonnen und Tennet (siehe Grafik auf Seite 20). Auch die Deutsche Energieagentur (Dena) hat sich in der Internetlandschaft umgesehen und Pooling als eine Chance für die Digitalisierung der Energielandschaft identifiziert.

Die Bündelung von dezentralen Angeboten auf einer Plattform, auf der zum Beispiel auch die Geschäftsmodelle von Foodora oder Airbnb basiert, funktioniert auch für Virtuelle Kraftwerke. Deshalb lohnt es sich laut Dena diesen Ansatz weiterzuverfolgen und damit neue Geschäftsmodelle in der Energiebranche zu schaffen.

Markt wird 2020 reif sein

Gelingt es, Virtuelle Kraftwerke flächendeckend umzusetzen, könnte das Energiesystem von verschiedenen Vorteilen gegenüber konventionellen Kraftwerken profitieren. So stünde der Trägheit konventioneller Großkraftwerke die Flexibilität der dezentralen und heterogenen Energieerzeugung gegenüber. Zudem rechnet die Arbeitsgemeinschaft für sparsamen und umweltfreundlichen Energieverbrauch (ASUE) in ihrer Broschüre „Virtuelle Kraftwerke“ mit einem höheren Wirkungsgrad. So sei im Wohn- und Gewerbebereich ein Wirkungsgrad von 90 Prozent möglich, wenn kleinere Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gleichzeitig Strom und Wärme produzieren und vor Ort nutzen.

PwC hat für seine Virtuelle-Kraftwerke-Studie verschiedene Marktteilnehmer gefragt, welche Vermarktungschancen aus ihrer Sicht am attraktivsten sind. Demnach beurteilen die Akteure die Fahrplanoptimierung als besonders spannend im Zusammenhang mit Virtuellen Kraftwerken, aber auch Direktvermarktung und die Flexibilitätsprämie werden oft genannt.

Seinen Reifepunkt wird der Markt für Virtuelle Kraftwerke laut der PwC-Studie im Jahr 2020 erreichen. Einen wichtigen Beitrag bei der technologischen Entwicklung werden Smart Meter spielen, da diese gerade für die preisgünstige Netzanbindung kleinerer Anlagen nahezu alternativlos sind. Sicher ist: Es führt kein Weg an Virtuellen Kraftwerken vorbei. Wie die Akteure am Energiemarkt dazu stehen, zeigen die Stimmen aus der Praxis auf den folgenden Seiten.

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