Prof. Dr. Jochen Kreusel Ohne Klimaneutralitätsnetz keine Energiewende

Hitachi Energy Switzerland Ltd

Prof. Dr. Jochen Kreusel ist Senior Vice President bei Hitachi Energy und dort als Mitglied des Technologie-Kernteams weltweit verantwortlich für Marktinnovation. Jochen Kreusel ist Präsident von T&D  Europe sowie Mitglied des Präsidiums des Verbands der Elektrotechnik, Elektronik, Informationstechnik (VDE). Er ist Mitglied mehrerer Lenkungs- und Expertengruppen der Europäischen Kommission und hat einen Lehrauftrag an der RWTH Aachen.

Bild: Hitachi Energy
23.10.2023

Europa und Deutschland streben bis 2050 Klimaneutralität an. Die dafür notwendige Weiterentwicklung der elektrischen Netze ist jedoch bisher noch nicht ausreichend geplant. Um das Ziel rechtzeitig zu erreichen, müssen die Netze parallel zu den Veränderungen auf Einspeise- und Verbrauchsseite technisch und funktional weiterentwickelt werden. Doch wie kann diese Transformation gelingen?

In den zurückliegenden gut 20 Jahren bedeutete Energiewende in Deutschland primär den Ersatz konventioneller Kraftwerke im bestehenden elektrischen Energieversorgungssystem durch erneuerbare Energiequellen. Immer deutlicher wurde dabei aber, dass sich die Transformation nicht auf die veränderte Bereitstellung von Energie beschränken kann.

Die Netze der elektrischen Energieversorgung als Bindeglied zwischen Einspeisung und Verbrauch müssen ebenfalls weiterentwickelt werden, wir benötigen ein Klimaneutralitätsnetz. Hinzu kommt, dass wir uns bei der Energiewende in Deutschland bisher hauptsächlich auf elektrische Energie in den Sektoren beschränkt haben, die schon immer elektrisch betrieben wurden. Die sind jedoch nur für etwa ein Viertel des Gesamtenergieverbrauchs verantwortlich. Daher brauchen wir nicht nur andere Netze, sondern auch deutlich mehr.

In Zukunft erwarten wir eine deutliche Zunahme klimaneutraler Energiequellen und eine massive Elektrifizierung bei Endverbrauchern. Das bedeutet, dass wir eine erheblich höhere Erzeugungsleistung und die entsprechende Infrastruktur benötigen werden. Der elektrische Energiebedarf wird voraussichtlich dreimal so hoch sein, wie heute, während die Erzeugungsleistung sich sogar vervierfacht.

Dies liegt daran, dass erneuerbare Energiequellen, die künftig den größten Teil der Erzeugung ausmachen werden, nicht kontinuierlich liefern. Daher müssen wir die Leistung der Netze ausbauen und sicherstellen, dass wir die Energie auch bei lokal hohem Angebot von Wind- oder Sonnenenergie aufnehmen können, damit auch Regionen versorgt werden können, an denen das Angebot zu diesen Zeiten nicht so gut ist.

Die elektrische Energieversorgung Deutschlands befindet sich seit Beginn des Jahrtausends in einem grundlegenden Veränderungsprozess. Früher hatten wir eine überschaubare Zahl großer Kraftwerke, die hauptsächlich in das Übertragungsnetz einspeisten. Deshalb gab es eine klare Energieflussrichtung von den wenigen großen Kraftwerken zu den Verbrauchern.

Flexibilität, also die Fähigkeit, Nachfrage und Angebot aufeinander abzustimmen, wurde fast ausschließlich auf der Erzeugungsseite realisiert, die dem aktuellen Bedarf jederzeit nachgeführt werden konnte. Dadurch konnten wir als Verbraucher jederzeit darauf vertrauen, dass das System uns mit Energie versorgt.

Schon heute sieht das System aber ganz anders aus. Die Erzeugung wird dezentraler, da erneuerbare Energien eine relativ niedrige Leistungsdichte aufweisen. Das bedeutet, dass wir viele kleinere Anlagen haben werden. Viele dieser Anlagen sind räumlich über das gesamte System verteilt. Gleichzeitig gibt es jedoch auch Bereiche, in denen die Anlagen konzentriert werden, beispielsweise in Küstenregionen für Offshore-Windparks oder an Standorten mit günstigen Bedingungen für Wasserkraftwerke.

Letzteres führt zu einer Zunahme der Transportaufgabe der Netze und zu einer erhöhten mittleren Übertragungsdistanz. Ersteres dagegen führt dazu, dass Verteilnetzbetreiber neue Aufgaben übernehmen müssen, weil ihre Netze nun nicht mehr nur Energie von höheren Netzebenen zu den Verbrauchern bringen, sondern auch Einspeisung aus dezentralen Anlagen einsammeln müssen. Und zuletzt steht erneuerbare Energie auch nicht zwangsläufig zu jeder Zeit in der gewünschten Menge zur Verfügung. Neue Flexibilitätsquellen werden deshalb gebraucht, wahrscheinlich auch auf der Nachfrageseite.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass das Netz schneller und volatiler wird. Wenn wir uns die Ziele für Solarenergie in Deutschland ansehen, gehen wir von einer installierten Leistung von bis zu 300 bis 400 GW aus.

Zum Vergleich: Die Spitzenlast in Deutschland beträgt derzeit nur etwa 80 GW. Die Sonne benötigt nur etwa eine halbe Stunde, um über Deutschland zu wandern. Das heißt, an einem sonnigen Sommertag werden wir irgendwann diese 300 bis 400 GW haben und sie werden sich im Laufe eines Vormittags ziemlich schnell aufbauen und vom System aufgenommen und geregelt werden müssen.

Der Schluss hieraus kann nur sein: Wir müssen alle gemeinsam Lernprozesse in Gang setzen, um die Herausforderungen im Bereich der Netze zu bewältigen. Wir müssen uns zusammensetzen und überlegen, wie wir dieses Netz zum Nutzen aller gestalten können. Gleichzeitig müssen wir technische Konzepte entwickeln und in die Praxis umsetzen. Es gibt keine vorgefertigte Lösung, daher wird dieser Prozess wahrscheinlich nicht in einem einzigen Schritt erfolgen.

Daher haben die Technologieausrüster für elektrische Netze einen iterativen Prozess vorgeschlagen, bei dem Netzbetreiber, -nutzer und -ausrüster regelmäßig zusammenkommen, um sich abzustimmen, wie die vor uns liegenden Aufgaben gelöst werden können und ob bereits initiierte Maßnahmen wie geplant funktionieren. Der Weg zum Klimaneutralitätsnetz ist eine technische und regulatorische Innovationsreise, auf der viele Lösungen der Vergangenheit infrage gestellt und auf ihre Tauglichkeit für die Zukunft überprüft werden müssen.

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