Industrieelektronik Hochseetauglich? Zertifizierung für den Schiffsbau

Bild: Olga_Danylenko, iStock
27.03.2015

Nachdem die deutschen Werften ein weitgehendes Abwandern in Niedriglohnländer hinnehmen mussten, hat sich die Zulieferindustrie für die technische Schiffsausrüstung auf die Tugenden des Maschinenbaus besonnen und innovative Konzepte zur Anwendung der modernen Elektronik für den Betrieb von Schiffen entwickelt. Die resultierenden Produkte werden weltweit verkauft und haben den Zulieferern mittlerweile eine beachtliche internationale Bedeutung verschafft.

Die internationalen Warenströme laufen zu 90 Prozent per Schiff, mittlerweile fahren bereits über 60000 Schiffe über die Weltmeere, und auch die Binnenschifffahrt fungiert als wichtiger Verkehrsträger. Zusätzlich ist die Bedeutung für den Tourismus in den letzten Jahren erheblich gestiegen, moderne Kreuzfahrtschiffe kann man fast als „schwimmende Städte“ bezeichnen. Da die Schiffsausrüstung circa 70 Prozent der Baukosten eines Schiffes ausmacht, hat sich ein bedeutender Markt etabliert. Hierzulande zählen 400 Zulieferfirmen mittlerweile fast 70.000 Beschäftigte und erzielen einen Umsatz von etwa 12 Milliarden Euro. Wichtigster Bestandteil der Produkte ist moderne Elektronik.

Ohne Elektronik geht es nicht

Die Anwendungen der Elektronik bei der Schiffsausrüstung sind äußerst vielfältig und ermöglichen mehr Sicherheit, geringere Betriebskosten, höhere Geschwindigkeiten, mehr Komfort, niedrigeren Treibstoffverbrauch und - als wichtigstes Zukunftsprojekt - mehr Schonung der Umwelt. Beispiele für solche Anwendungen sind:

  • Verbesserung der Ausfallsicherheit

  • Antriebe mit alternativen Energien (z. B. Erdgas statt Schweröl)

  • Reduzierung der Emissionen durch elektronisches Motormanagement

  • Intelligente Sicherheitskonzepte

  • Schiffsautomatisierung

  • Intelligente Systeme für die Kommandobrücke

  • Navigation (z.B. Autopilotsysteme)

  • Bereitstellung von Wetterdaten

  • Radar- und Sonarsysteme

  • Multimedia-Unterhaltungssysteme

  • Management von Fischerei-Fangquoten

  • Elektronisches Beladungs-Management

  • Verschleiß-Monitoring

  • Klimatisierung

  • Wasseraufbereitung

  • Kühlsysteme

Die dafür benötigten Elektronikeinheiten werden von der Zulieferindustrie weltweit an die Schiffswerften geliefert und dort eingebaut. Oftmals geschieht dies vor Ort unter Mitwirkung von entsprechend geschultem Personal der Lieferanten. Teilweise werden Geräte auch direkt im Heimatland der Werft gebaut und dafür Lizenzgebühren an die Kon-
struktionsfirma entrichtet.

Erschwerter Einsatz

Beim Betrieb von Elektronik-Baugruppen auf einem Schiff sind die Umweltbedingungen nicht mit den aus dem allgemeinen Maschinenbau bekannten Vorgaben vergleichbar. An Bord herrschen neben einem viel größeren Temperatur-Betriebsbereich auch zusätzliche Faktoren wie aggressive Meeresluft und generell höhere Luftfeuchtigkeit, welche zu höherer Korrosionsgefahr führen. Es ist ferner eine gesteigerte Resistenz gegen Vibrations- und Schockeinwirkungen erforderlich, und es muss auch der höheren Gefahr von Spannungsschwankungen und Überspannungsphänomenen Rechnung getragen werden. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Frage, welche Folgen ein Teil- oder auch Gesamt-Systemausfall für ein Schiff hat. Man muss sich nur vorstellen, dass ein riesiges Container- oder Kreuzfahrtschiff plötzlich in Brand gerät oder steuerlos im Meer oder auf einen Hafen zuläuft. Die Folgen sind mit denen bei einer Industrieanwendung nicht vergleichbar.

Diese Betrachtungen zeigen ganz klar, dass eine einfache Adaption einer Baugruppe aus dem Industriebereich auf eine Schifffahrtsanwendung nicht möglich ist. Man kann zwar ein Grundkonzept einer Industrieelek-
tronik beibehalten, die Hardware muss jedoch ebenso wie Teile der Software von Grund auf neu konzipiert werden.
Um einen sicheren Betrieb einer Schiffselektronik zu gewährleisten, sind daher eine Reihe von Bestimmungen und Bauvorschriften zu beachten.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Im Schiffsbau müssen die Schiffe und damit auch die Zulieferprodukte in den meisten Fällen durch eine Klassifizierungsgesellschaft zertifiziert werden. Nur wenige Länder gestatten den Betrieb eines nicht klassifizierten Schiffes in ihren Hoheitsgewässern. In Europa sind solche Schiffe generell nicht zulässig. Dies bedeutet, dass Konzipierung, Ausführung, Funktion und Fertigung einer Elektronik nach den Vorschriften der Gesellschaft erfolgen müssen. Die Einhaltung dieser Kriterien wird von den Gesellschaften genau überwacht und für einen bestimmten Zeitraum über eine Baumuster-Prüfbescheinigung freigegeben. Die Zuständigkeit hängt vom Schiffstyp, dem Sitz des Kunden und der angestrebten Schiffsklasse ab. Dies kann bedeuten, dass für das gleiche Produkt je nach Kundensitz mehrere Zertifikate benötigt werden.

Eine erhebliche Vereinfachung hat sich dadurch ergeben, dass sich elf weltweit führende Klassifikationsgesellschaften in der Dachorganisation IACS (International Association of Classification Societies) zusammengeschlossen haben. Die Mitglieder sind folgende:

  • China Classification Society (China)

  • Det Norske Veritas - Germanischer Lloyd (Deutschland)

  • Lloyd´s Register of Shipping (England)

  • Bureau Veritas (Frankreich)

  • Indian Register of Shipping (Indien)

  • Registro Italiano Navale (Italien)

  • Nippon Kaiji Kyokai (Japan)

  • Korean Register of Shipping (Korea)

  • Hrvatski Registar Brodova (Kroatien)

  • Maritime Register of Shipping (Russland)

  • American Bureau of Shipping (USA)

Daneben existieren noch etwa 30 andere Klassifikationsgesellschaften, welche entweder regional arbeiten oder sich auf bestimmte Anwendungen spezialisiert haben. Zur Zertifizierung ist ein bestimmter Ablauf vorgegeben, den die Abbildung auf dieser Seite erläutert. Nach erfolgreicher Prüfung wird eine Baumuster-Prüfbescheinigung ausgestellt, welche eine Gültigkeit von fünf Jahren hat. Danach kann über ein Prüfverfahren, welches auch etwaige technische Änderungen erfasst, eine weitere Verlängerung erfolgen.

Für die verschiedenen schiffstypischen Einrichtungen wurden von der IACS ausführliche Richtlinien ausgearbeitet, deren Einhaltung von der Klassifikationsgesellschaft geprüft wird. Bei der Prüfung ist jeweils ein Experte der Klassifizierungsgesellschaft anwesend, auch die Fertigungsstätte des Zulieferteils wird inspiziert.

Was die IACS verlangt

Für die Anwendung bei elektronischen Produkten findet man in den „Requirements“ den Abschnitt „Electrical Installations“. Hier einige Beispiele für Prüfpunkte:

  • Verhalten bei Spannungs- und Frequenzänderungen

  • Verhalten bei Ausfall der Stromversorgung

  • „Trockene Wärme“

  • „Dampfwärme“

  • Schock und Vibration

  • Lageänderung

  • Isolationswiderstand

  • Spannungsfestigkeit

  • Kälte

  • Salznebel

  • Wasser- und Staubdichtigkeit

  • Alle EMV-Vorschriften mit erhöhten Anforderungen

  • Brandsicherheit

  • Technische Dokumentation

  • Schutz gegen Modifikationen

  • Softwarequalität (Dokumentation, Testumfang, Qualitätssicherung)

  • Verhalten bei Fehlbedienung

Wie man sieht, sind zur Implementierung dieser Vorschriften relativ umfangreiche und damit zeitraubende entwicklungsbegleitende Testreihen erforderlich. Ein probates Mittel zur Zeitersparnis stellt im Bereich der Umwelttests der so genannte HALT(Highly Accelerated Life)-Test dar. Dies ist ein Schnellalterungstest, bei dem Baugruppen im Betriebszustand über die Nennwerte hinaus gezielt bis zum Ausfall überlastet werden, um dadurch Rückschlüsse auf Robustheit und Lebensdauer eines Produktes zu erhalten.

Außerdem können mit dieser Belastungsprüfung schneller eventuelle Schwachstellen aufgedeckt werden. Durch mehrfache Verbesserungen und nachfolgende HALT kann man so relativ schnell eine hohe Zuverlässigkeit erreichen.

Beim HALT können auch mehrere Stressparameter gleichzeitig auf das Produkt einwirken, beispielsweise Vibration und Wärme. Für die Durchführung der HALT-Belastungsprüfung sind spezielle Testeinrichtungen notwendig (zum Beispiel mit hydraulischem Antrieb), welche die benötigten extrem hohen Beschleunigungen in Verbindung mit zusätzlichen Prüfparametern ermöglichen. Dabei werden sämtliche relevanten Betriebswerte des Prüflings ständig überwacht und aufge-
zeichnet.

Der Aufwand lohnt sich

Sicherlich ist der Aufwand zur Entwicklung eines für den Einsatz auf Schiffen zugelassenen Gerätes oder Moduls recht aufwendig und teuer. Am Ende steht jedoch ein Produkt, welches nicht einfach vom Wettbewerb kopiert werden kann und von hoher Zuverlässigkeit und Robustheit geprägt ist. Daher können auch die erhöhten Entwicklungskosten einfacher über den Verkaufspreis refinanziert werden.

Bildergalerie

  • Verfahrensablauf einer Baumusterprüfung bis zur Klassifizierung

    Verfahrensablauf einer Baumusterprüfung bis zur Klassifizierung

    Bild: Hans P. Vrancken

  • Bereiche der HALT-Belastungsprüfung („HALT“ = Highly Accelerated Life Test)

    Bild: Hans P. Vrancken

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