1 Bewertungen

Interview mit Hilscher zu Netzwerktechnologien (Promotion) „Die Zukunft steht auf Gigabit"

Hilscher Gesellschaft für Systemautomation mbH

Sebastian Hilscher, CEO bei Hilscher, im Gespräch mit der E&E-Redaktion

Bild: Loeffler Photography & Film
08.09.2023

Im industriellen Umfeld gewinnt die Kommunikation mit hoher Bandbreite gerade in Produktionsprozessen zunehmend an Wichtigkeit. Denn die Anwendungen werden immer datenintensiver und zudem verlangen die vernetzen Geräte ein immer höheres Maß an Sicherheit. Das ist in Zukunft nur mit Gigabit-Netzwerken zu bewältigen. Welchen Weg der Kommunikationsspezialist in puncto Gigabit dabei verfolgt, erklärt Sebastian Hilscher, CEO bei Hilscher, und Thomas Rauch, CTO bei Hilscher, im E&E-Interview.

Hilscher bietet bereits seit etwa 20 Jahren ein umfangreiches Portfolio an Kommunikations-Lösungen an. Können Sie kurz umreißen, warum sich Hilscher damals dem besonderen Chip-Bereich (SoC) als Businessmodell widmete?

Sebastian Hilscher:

Lassen Sie uns einen Blick auf die Zeit vor etwa 25 bis 30 Jahren werfen. In dieser Zeit starteten wir unser Geschäft mit PC-Kommunikationskarten (damals noch mit zum Beispiel Profibus oder DeviceNet) - heute sind wir führend in diesem Bereich. Doch um 2003/2004 änderte sich alles, als der Trend aufkam, industrielle Kommunikation über Ethernet abzuwickeln. Wir stellten uns die Frage wie weit uns industrielle PC-Karten in die Zukunft tragen, wenn jeder PC, Ethernet an Board hat. Wir wollten eine Lösung finden, um im wachsenden Markt der Sensoranwendungen, beispielsweise für Motoren oder Antriebe, Fuß zu fassen. Daher war unsere logische Schlussfolgerung die Entwicklung eines eigenen Chips, der in die Sensoren integriert werden konnte und mit weiteren Anwendungen skalierbar ist. Allerdings wurde bald klar, dass nicht alle PCs, die über einen standardisierten Anschluss verfügten, mit allen industriellen Netzwerkprotokollen wie etwa Profinet, EtherNetIP, PowerLink oder Sercos interagieren konnten. Dadurch entstanden weitere spezialisierte Verbindungen wie PowerLink und andere, die vom „normalen" Internetprotokoll abwichen. Trotz stabiler Marktlage haben wir uns daher entschieden, neue Wege zu gehen und die Entwicklung von Kommunikationslösungen für die Industrie zu starten. Ein entscheidender Impuls war dabei ein Vortrag von Professor Otto Mank, der zu dieser Zeit am MAZ Brandenburg tätig war. Er sprach über kundenspezifische Entwicklungen, was uns dazu inspirierte, unsere eigene Technologie zu entwickeln. Mit Unterstützung von Professor Mank wurde in einem Projekt der erste netX-Chip entworfen und damals von Renesas produziert. Als das Projekt auslief, gab es keine Nachfolgeregelung für die Projektgruppe im MAZ Brandenburg. So entschieden wir uns damals, alle Projektmitarbeiter mit ihrem Know-how zu übernehmen und das Tochterunternehmen Hischer SoC Technology zu gründen.

Mit der zunehmenden Verbreitung des Industrial IoT hat Hilscher den netX 90 auf den Markt gebracht. Was sind die Besonderheiten dieser netX-Generation?

Sebastian Hilscher:

Innerhalb des netX-90 gab es gleich mehrere Highlights: Als multiprotokollfähiger Kommunikationscontroller standen hier natürlich die gängigen Industrieprotokolle auf 100 Mbit/s-Basis im Vordergrund – wie man es heute von Hilscher kennt. Dazu zählen natürlich Profinet, EtherCat, EthernetIP bis OPC UA over TSN. Ein bemerkenswertes und neues Element war das Thema Sicherheit. Wir haben eine Hardware-Beschleunigung implementiert und zudem Infopages für Schlüsselablagen sowie diverse Krypto-Mechanismen eingebaut. Ein weiterer Höhepunkt betrifft die Aufteilung des Chips in eine Applikations- und Kommunikationsebene. So kümmert sich Hilscher mit einem CPU-Core um die Kommunikation, die sogenannte „Blackbox“, und übernimmt die Verantwortung dafür. Mit dem zweiten Core geben wir dem Kunden die Möglichkeit, sich unabhängig von uns in Bezug auf seine Applikationen mit dem System auszutauschen.Nicht zuletzt haben wir erkannt, dass wir zu sehr von Lieferketten abhängig waren. Wir haben uns von unseren bisherigen Lieferanten gelöst und das komplette Supply-Chain-Management beim netX 90 selbst übernommen, um mehr Kontrolle zu erlangen. Dies hat sich besonders in den letzten zwei Jahren bewährt, da wir dadurch weniger anfällig für Krisen waren als zuvor. Unsere Unabhängigkeit von Lieferanten hat es ermöglicht, ein Vertrauen bei Kunden aufzubauen und uns als zuverlässigen und kundenorientierten Partner zu etablieren.

Gerade im Industrieumfeld wird das Thema Sicherheit großgeschrieben, denn es gilt, die kritische Infrastruktur in einem Unternehmen vor potenziellen Angreifern zu schützen. Das betrifft insbesondere die eingesetzte Hardware und Software. Welchen Stellenwert hat das Thema Security bei der netX-Familie?

Sebastian Hilscher:

Wir erleben gerade, dass für das Thema Cyber-Sicherheit die EU den Cyber Resiliance Act verabschieden will. Dieser erfordert von allen Herstellern eine umfassende, über Prozesse definierte, Kenntnis ihrer Geräte und Lieferketten bezüglich Security. Das beginnt natürlich bei der entsprechenden Chiptechnologie. Besonders wichtig beim Thema Sicherheit ist, dass Hardware und Software aus einer Hand kommen. Nur so lässt sich ein umfassendes und integres Sicherheitskonzept für die Geräte realisieren und aufrechterhalten. Besonders dann ist ein tiefes und umfassendes Verständnis gefragt, wenn verschiedene Angriffsvektoren auf einen Software-Stack oder auf die Hardware abzielen. Dann ist es wichtig, einen verlässlichen Partner zu haben, der die möglichen Schwachstellen der Hard- und Software in kürzester Zeit patchen oder beheben kann. Das ist der Vorteil eines Komplettanbieters wie Hilscher einer ist.

Thomas Rauch:

Bei der netX-90-Generation haben wir einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema Sicherheit gelegt. Dabei konnten wir von unserer langjährigen Expertise, die wir im Bereich Sicherheit gesammelt haben, profitieren. So verstehen wir mittlerweile das Zusammenspiel von Hardware, Software und Sicherheit sehr gut. Diese Verbindung ist von großer Bedeutung und Wichtigkeit, gerade dann, wenn man Prozessdaten auf Gigabit-Basis und Inline-Verschlüsselung im Profinet zusammenführt. Das unterscheidet uns auch von Mitbewerbern.

Wie unterscheiden Sie sich mit der netX-90-Technologie von den Mitbewerbern?

Thomas Rauch:

Unser Alleinstellungsmerkmal ist: Wir bei Hilscher übernehmen die Verantwortung für die Kommunikationstechnik beim Kunden, ob es der Chip ist oder die Software, das spielt keine Rolle. Aber wir können den Kunden auch bei der Realisierung seiner Projekte betreuen - von der Idee bis zum fertigen Produkt. So analysieren wir gemeinsam mit ihm die Problemstellung, bieten mögliche Lösungswege an, begleiten ihn durch alle Entwicklungsprozesse oder helfen bei der Fehlerbehebung. Wir bieten Kunden jedoch noch mehr. Ein Beispiel ist unser modulares Plattformkonzept. Dadurch können wir sehr rasch auf technologische Marktveränderungen oder Tendenzen reagieren und dem Kunden schnell eine Kommunikationslösung für sein Problem anbieten. Der Kunde, sei es ein Anlagenbauer oder Maschinenentwickler, kann sich so auf seine Kernkompetenzen konzentrieren und dadurch die Time-to-Market für sein Produkt verkürzen. Zudem verfügen wir über ein Kunden-Applikations-Solution-Center, das wir Kunden zur Verfügung stellen, die beispielsweise nur den Chip kaufen wollen und den Rest selbst entwickeln oder umgekehrt. Ebenso steht dem Kunden unser Partnernetzwerk zur Verfügung, das bereits oft als Ideenschmiede oder Problemlöser gedient hat. Wir gewähren dem Kunden auch die Freiheit, unsere Lösungen selbst zu entdecken, indem wir verschiedene Ebenen von Evaluationsboards anbieten. Zum Beispiel stellen wir für den netX 90 ein Entwickler-Kit zur Verfügung, mit dem man eine Antriebssteuerung samt Kommunikation auf unserem Chip aufbauen kann, inklusive Software Code, Beispielanwendungen und Dokumentation.

Im Industrieumfeld waren und sind aktuell stabile Lieferketten besonders wichtig. Wie werden Sie dem gerecht?

Sebastian Hilscher:

Im Kontext der Lieferketten-Thematik ist eine differenzierte Betrachtung besonders wichtig. Wir haben gerade zwei Jahre hinter uns, die sowohl positive als auch herausfordernde Phasen in der Liefersituation aufwiesen. Unser Unternehmen stützt sich auf zwei Standbeine: eines sind unsere Chips, das zweite ist unser Modul-, PC-Karten- und Gateway-Geschäft. Bei den netX-90-Chips, bei denen wir die komplette Supply-Chain und das Backend-Management selbst in die Hand genommen haben, verlief die Belieferung in den letzten zwei Jahren sehr erfolgreich. Durch diese Umstellung können wir zum Beispiel Wafer oder getestete Packages in großen Mengen bestellen, ohne auf Lieferschwierigkeiten zu stoßen. Wir waren deshalb in der Lage, sämtliche Kundenwünsche zu erfüllen, sodass wir in dieser Zeit ein verlässlicher Partner waren und auch in Zukunft mit den neuen Chips sein werden. Bei den Modulen, PC-Karten und Gateways haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir uns in Zukunft etwas breiter aufstellen müssen. Das bedeutet, bei Bauteilen schon während der Entwicklungsphase auf Second Source zu setzen und den Entwicklungsprozess insgesamt modularer zu gestalten, damit wir flexibel auf Bauteilwechsel reagieren können. Dieses Umdenken war notwendig, da wir teilweise von externen Faktoren abhängig waren.

Der Datenaustausch im Industriebereich ist wichtig, denn mit den gewonnenen Informationen lässt sich ein Mehrwert generieren. Bisher galt eine Datenübertragungsrate von 100 Mbit/s im Indus­trieumfeld als völlig ausreichend. Warum ist das heute nicht mehr so?

Sebastian Hilscher:

Weil, wenn wir über das Thema Digitalisierung sprechen, bedeutet das, dass wir uns mit einer Vielzahl von Entwicklungen auseinandersetzen müssen. Hierbei geht es vor allem darum, dass immer mehr Daten in die Cloud übertragen werden, die wiederum für Anwendungen wie Data Analytics oder etwa Predictive Maintenance genutzt werden. Im Bereich Maschinen- und Anlagenbau sehen wir zum Beispiel, dass immer mehr Sensoren unterschiedlichster Art zur Maschinenüberwachung und Prozesskontrolle verbaut werden. Das bedeutet, dass wir einerseits Geräte haben, die uns grundlegende Daten liefern, und andererseits sind diese Geräte vernetzt, was die Datenerfassung noch vielschichtiger macht. Zusätzlich beobachten wir einen wachsenden Trend im Bereich der Bildverarbeitung, die es ermöglicht, noch mehr Detailinformationen über den Fertigungsprozess zu sammeln. All das erfordert eine erhebliche Erweiterung der benötigten Datenbandbreite. Da reichen 100 Mbit/s nicht mehr aus. Zudem spielen sich einige Entwicklungen in diesem Umfeld vorwiegend in der Cloud ab, wo die gesammelten Informationen letztlich verarbeitet werden.

Thomas Rauch:

Für die Herausforderungen in der digitalisierten Industrie wird Gigabit-Technologie immer wichtiger. Wir beobachten alle Trends sehr genau und bereiten uns darauf vor. So gewinnen zum Beispiel virtualisierte Steuerungen, quasi eine SPS in der Cloud, eine immer größere Bedeutung. Auch das datenintensive Edge Computing nimmt immer mehr Fahrt auf. Dort sind wir auch in den Gremien aktiv und unterstützen bei der Definition des Edge-Layers oder diskutieren über die OT-IT-Konvergenz im industriellen Umfeld. Gerade im Bereich virtualisierter SPS sehen wir, dass viele verschiedene Sensordaten direkt aus dem Prozess in die Cloud übertragen werden. Hier ist die Gigabit-Netzwerktechnologie der einzige Lösungsweg, da eine Filterung der Daten über ein Edge-System oft nicht mehr erfolgt. Aber wir müssen auch über Anwendungsfälle sprechen, die wir heute noch gar nicht kennen. Auch für diese Lösungen müssen wir mit unserem Multiprotokoll-Portfolio gewappnet sein. Deshalb sind wir in den entsprechenden Gremien vertreten und legen dort die Grundsteine, damit unsere Kunden später den maximalen Mehrwert aus der Gigabit-Technologie herausziehen können. Auch das Thema Digitaler Zwilling gewinnt in der Industrie immer mehr an Bedeutung. Hier werden große Mengen an Echtzeitdaten aus den laufenden Prozessen über die Sensoren benötigt, um das digitale Pendant so realitätsnah wie möglich abzubilden. Mit der 100-Mbit-Technologie ist das nicht mehr möglich. Zudem kommen Technologien wie Machine Learning (ML) und Künstliche Intelligenz (KI) dazu, die eine schnelle Cloud-Anbindung benötigen.

Was sind die wichtigsten Herausforderungen, wenn man Gigabit-Technologie im industriellen Umfeld implementieren will? Worauf müssen zum Beispiel 
Entwickler dabei besonders achten?

Thomas Rauch:

Ein wichtiger Aspekt bei der Nutzung von Gigabit-Technologie im Industriebereich wird die Modularität sein. Das betrifft die Hardware und die Software. Durch modulare Architekturen und Plattformen lassen sich die zahlreichen Anwendungsfälle besser bewältigen. Zum Beispiel kann man ein Hardware-Modul in Bezug auf Sicherheit härten und es dann problemlos in verschiedenen Anwendungen einsetzen, ohne sich erneut Gedanken über mögliche Schwachstellen des neuen Systems machen zu müssen. Das Gleiche gilt natürlich für einen modularen Software-Stack.

Die SPS steht mittlerweile wieder vor der Tür und viele Besucher erwarten natürlich wieder Neuigkeiten rund um technologische Fortschritte und Trends. Können Sie uns schon verraten, mit welchen Thema Sie in diesem Jahr auf der Messe auftreten werden?

Sebastian Hilscher:

Ganz klar, wir sind und bleiben ein Multiprotokoll-Lieferant, und im nächsten Schritt richten wir unser Portfolio auf Gigabit-Technologie aus. Das ist Fakt. Ein weiteres Thema, das uns aktuell beschäftigt, ist Time-Sensitive Networking (TSN). So stellen wir uns die Frage, ob TSN in jeder Kommunikationsform zu 100 Prozent gleich sein wird oder ob es doch kleine Abweichungen gibt. Ist CC-Link TSN wirklich dasselbe wie OPC UA FX TSN oder Profinet TSN? Was wir bei Hilscher auf jeden Fall sagen können: Wir werden mit der kommenden Chip-Generation alles abdecken. Aber wir sprechen nicht nur über TSN, sondern über alles, wie zum Beispiel EtherCAT G, was mit Gigabit-Technologie in der Industrie kommuniziert. Wir sind ja ein Multiprotokoll-Lieferant, und das „Multi“ nehmen wir dabei sehr ernst. Sicherheit ist auch in der nächsten Chip-Generation ein entscheidendes Thema. Die Kombination aus Hardware und Software inklusive TSN auf Gigabit-Niveau ist eine Herausforderung, der wir uns gestellt haben. Hier spielt Hilscher durch sein langjährig aufgebautes Know-how eine Vorreiterrolle. Mehr möchte ich aber vorerst nicht verraten.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie hier.

Bildergalerie

  • Thomas Rauch, CTO bei Hilscher, im Gespräch mit der E&E-Redaktion

    Thomas Rauch, CTO bei Hilscher, im Gespräch mit der E&E-Redaktion

    Bild: Hilscher

Verwandte Artikel