Interview mit Michael Brosig von Jumo „Die Zeiten, in denen ein Fühler ein gerades Metallrohr war, sind endgültig vorbei“

„Wir haben zwar noch einige Ideen ,im Köcher‘, konzentrieren uns momentan aber auf das Projektgeschäft“, sagt Michael Brosig, Pressesprecher bei Jumo, im P&A-Interview über die plastoSENS-T-Temperaturfühler.

Bild: Jumo
05.11.2020

Jumo hat mit seiner Kunststoffsensorik 2017 ein neues Verfahren zur Herstellung von Temperaturfühlern präsentiert. Die Sensoren werden dabei nicht wie bisher üblich in einem Metallrohr vergossen, sondern im Spritzgussverfahren mit Kunststoff ummantelt. Die P&A sprach mit Michael Brosig, Jumo-Pressesprecher, über das patentierte System.

Kunststoff hat eine geringere Wärmeleitfähigkeit und ist deshalb für die Temperaturmessung nicht optimal geeignet. Stimmen Sie dem zu?

Das wird Ihnen jeder Hobbykoch so bestätigen, der einen Topf mit Griffen aus Metall oder aus Kunststoff besitzt. Fühler aus Metall galten über Jahrzehnte hinweg aufgrund ihrer guten Wärmeleitfähigkeit und der daraus resultierenden geringen Ansprechzeit als das „Maß aller Dinge“ in der Temperaturmessung.

Für die Herstellung des plastoSENS T wurde das Problem der Wärmleitfähigkeit gelöst. Welche Herausforderungen musste Jumo hierfür lösen?

Kunststoff ist nicht gleich Kunststoff – heute sind mehr als 200 verschiedene Arten bekannt, die nach verschiedenen Gesichtspunkten unterschieden werden. Bei Jumo plastoSENS T handelt es sich um sogenannte Hochleistungskunststoffe. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass eine oder manchmal auch mehrere Werkstoffeigenschaften besonders hervorstechen, zum Beispiel extreme Temperaturbeständigkeit, elektrische Leitfähigkeit oder besondere Chemikalienbeständigkeit. Beim plastoSENS T konnten wir durch die Verwendung spezieller Additive die Wärmeleitfähigkeit erhöhen und damit Ansprechzeiten erreichen, die mit Fühlern aus Metall vergleichbar sind.

Für welche Anwendungen ist ein Temperaturfühler aus Kunststoff einem aus Metall zu bevorzugen?

Den Einsatzmöglichkeiten von plastoSENS-T-Temperaturfühlern sind prinzipiell in einem Temperaturbereich zwischen -40 und 180 °C keine Grenzen gesetzt. Die besonderen Stärken können die Sensoren in Applikationen mit starken Vibrationen (zum Beispiel Motoren) ausspielen oder überall dort, wo hohe Ströme fließen (beispielsweise Transformatoren). Aber auch in Sterilisationsanwendungen bieten Kunststoffsensoren klare Vorteile.

Welche Vorteile bietet ein Temperatursensor aus Kunststoff für den Anwender?

Das größte Plus bei Sensoren aus Kunststoff ist die Formfreiheit. Die Zeiten, in denen ein Fühler immer ein gerades Metallrohr war, sind endgültig vorbei. Jumo-plastoSENS-T-Produkte passen sich an die jeweilige Einbausituation an. So kann ein komplettes Kunststoffgehäuse zu einem Sensor werden. Oder der Fühler ist rund, spiralförmig und hat einen Winkel – der Vorstellungskraft sind fast keine Grenzen gesetzt. Weitere Vorteile von Messtechnik aus Kunststoff sind zum einen das geringe Gewicht und die Reproduzierbarkeit. Stückzahlen in beliebigen Größen können wesentlich schneller als bisher realisiert werden. Zum anderen besitzt Kunststoff eine außergewöhnliche Vibrations- und Isolationsfestigkeit.

Ist Kunststoffsensorik 1:1 mit einer Messeinheit aus Metall vergleichbar? Welche Nachteile hat ein Sensor aus Kunststoff?

Natürlich setzen die Materialeigenschaften von Kunststoff dem messbaren Temperaturbereich nach oben deutliche Grenzen. Einzelne Temperaturspitzen von über 200 °C halten unsere Fühler zwar aus, im Dauerbetrieb funktionieren hier aber nur noch Sensoren aus Metall. Darüber hinaus ist der Konstruktions- und Entwicklungsprozess von Kunststofffühlern komplett anders als bei herkömmlichen Sensoren. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil, aber Kunden müssen sich auf diese anderen Rahmenbedingungen einlassen.

Ist beim Einsatz des Kunststoffsensors ein Umdenken im Vergleich zu herkömmlichen Temperaturfühlern nötig?

Das Umdenken bezieht sich im positiven Sinne auf die Gestaltungsfreiheit, die plastoSENS-T-Sensoren bieten. Nehmen wir zum Beispiel die Temperaturmessung in Kunststoff-Rohrleitungen. Bisher war es sehr kompliziert, einen Temperatursensor von außen in einem solchen Rohr zu platzieren – und zwar absolut dicht und vibrationsgeschützt. Mit unserer Technik kann ein Sensor komplett in ein passendes Rohrstück eingegossen werden, das dann in die Leitung eingebaut wird. Aber natürlich macht auch der Herstellungsprozess ein gewisses Umdenken im Vergleich zu herkömmlichen Temperaturfühlern nötig. Die erforderlichen Spritzgusswerkzeuge werden individuell gefertigt, wodurch die Anfangsinvestitionen höher als bei herkömmlichen Fühlern sind. Kunststoffsensoren sind deshalb nicht automatisch günstiger als vergleichbare Produkte aus Metall.

Die Produkte werden in enger Zusammenarbeit mit den Kunden entwickelt. Wie sieht ein typischer Herstellungsprozess aus?

Der Prozess startet mit einer Machbarkeitsprüfung und einem Designvorschlag und führt über die Konstruktion und Simulation der Sensoren zum Bau der Werkzeuge. Nach einer Bemusterungsphase starten die Prüfungen, an deren Ende ein funktionsfähiger Prototyp und die Serienproduktion stehen. Konstruktionsbedingt ist es dabei schwierig, einzelne Musterexemplare zu produzieren. Jumo setzt deshalb eine moderne Software ein, in der zum Beispiel das Ansprechverhalten und die Wärmeableitfähigkeit des geplanten Sensors unter Einbeziehung der Einbausituation bereits im Vorfeld simuliert werden können. Für Montagetests und zur Beurteilung der Geometrie werden Muster im 3D-Druck hergestellt.

Machbarkeitsprüfung, Designvorschlag, Bemusterungsphase – ist der Aufwand bei der Konstruktion mit steigender Nachfrage in der Realität überhaupt umsetzbar?

Wir haben mit der PGT einen echten Kunststoff-Experten als Tochtergesellschaft in unsere Unternehmensgruppe integriert. Die Kollegen in Troisdorf verfügen über großes Fachwissen in den Bereichen Kunststoff- sowie Automatisierungstechnik, Mess-, Steuer- und Regelungstechnik. Die PGT-Entwicklungsingenieure haben jahrzehntelange Erfahrung in der Betrachtung von thermischen Prozessen und sind Profis bei der Entwicklung kundenindividueller Produkte.

Jumo hat bereits vier Modelle mit plastoSENS-Technologie präsentiert. Wie ist die Resonanz auf den Sensor?

Die vier vorgestellten Modelle sind so etwas wie Musterprodukte, mit denen wir der Öffentlichkeit die ganze Bandbreite der Möglichkeiten demonstrieren können. Die Resonanz ist durchweg positiv, aber man darf nicht vergessen, plastoSENS-T-Sensoren sind in der Regel kundenindividuelle Projekte.

Sind weitere Modelle des Temperatursensors geplant und wann ist damit zu rechnen?

Wir haben zwar noch einige Ideen „im Köcher“, konzentrieren uns momentan aber auf das Projektgeschäft. Hier können die hohen Stückzahlen besser realisiert werden, die Kunststoffsensoren auch ökonomisch wettbewerbsfähig werden lassen.

Gibt es Überlegungen, diese Technologie auch für andere Messgrößen zu übernehmen?

Das Thema Temperatur steht bei uns am Anfang der Entwicklung, da Jumo die größte Erfahrung mit dieser Messgröße besitzt. Aber wir blicken auch über den Tellerrand hinaus. Als Konzept befassen wir uns mit dem Thema „Digitale Freiform Multisensorik“. Im Mittelpunkt steht hier ein sogenannter Modulbaukasten, in dem Sensorik für verschiedene Messgrößen wie etwa Temperatur, Feuchtigkeit, Druck oder Kraft in einem Kunststoffgehäuse verbaut werden. Mittels Harvesting versorgen sich die Module selbst mit Energie. Die Sensorsignale werden drahtlos durch eine Bluetooth-Schnittstelle übertragen. Bis zu 16 solcher Sensormodule können dann mit einem Gateway-Empfänger verbunden werden.

Welche Herausforderungen müssen Sie hier noch aus dem Weg räumen?

Mit der digitalen Freiform-Multisensorik begibt man sich sehr tief in das Thema Digitalisierung. Hier ist ein intensives Know-how auf Gebieten wie Softwareentwicklung, Cloud-Technologien oder Übertragungsstandards nötig. Jumo ist dabei, sich dieses Wissen anzueignen.

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