Kaum ein Branchenevent vergeht ohne Schlagworte wie kollaborative Robotik, menschzentrierte KI oder Hyperautomation. Industrie 5.0 wird in Fachkreisen als nächste Entwicklungsstufe industrieller Produktion beschrieben: Mensch und Maschine sollen enger zusammenarbeiten, Systeme individueller produzieren und nachhaltiger wirtschaften.
Doch die Realität sieht oft anders aus. Industrie 4.0 – die digitale Vernetzung und Automatisierung industrieller Prozesse – ist in vielen Unternehmen noch längst nicht durchgängig umgesetzt. Häufig bestehen gewachsene Maschinenparks, analoge Abläufe und Insellösungen ohne durchgängige Datenintegration. Hinzu kommen steigende Energiekosten, Fachkräftemangel und eine spürbare Investitionszurückhaltung. Viele Betriebe konzentrieren sich derzeit eher darauf, den Bestand am Laufen zu halten, als neue Großprojekte zu starten.
Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Thema deutlich an Bedeutung: Retrofit – die gezielte Modernisierung bestehender Produktionsanlagen im sogenannten Brownfield. Dieser Ansatz ermöglicht es, Maschinen schrittweise an neue Anforderungen anzupassen, ihre Lebensdauer zu verlängern und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern – ohne sie vollständig ersetzen zu müssen.
Retrofit als strategischer Ansatz
Produktionsanlagen sind langfristige Investitionen. Sie werden oft über Jahrzehnte genutzt, nicht selten 25 Jahre oder länger. Für Betreiber bedeutet das: Auch ältere Anlagen müssen zuverlässig, effizient und sicher laufen. Gleichzeitig gilt es, sie schrittweise an neue Verfahren, strengere Regularien und wachsende Nachhaltigkeitsanforderungen anzupassen. Eine durchdachte Retrofit-Strategie hilft, die Lücke zwischen bestehender Infrastruktur und künftigen Anforderungen zu schließen. Vier Handlungsfelder sind dabei besonders wichtig:
Digitale Konnektivität
Predictive Maintenance (vorausschauende Wartung)
Cyber-Sicherheit
Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung
1. Digitale Konnektivität – Daten nutzbar machen
Wettbewerbsfähigkeit hängt heute nicht mehr allein von der Produktionsleistung ab. Zunehmend entsteht Wertschöpfung durch Daten: Sie schaffen Transparenz, steigern die Effizienz und eröffnen neue Service-Modelle. Gerade im Brownfield ist es entscheidend, bestehende Maschinen digital anzubinden. IoT-Sensoren, Edge-Geräte und Schnittstellenlösungen können Maschinendaten erfassen und in bestehende Systeme integrieren. Entscheidend ist dabei, Informationen aus Produktion, Instandhaltung und IT zusammenzuführen und gemeinsam auszuwerten. So lassen sich Prozesse präziser steuern, Engpässe frühzeitig erkennen und Ressourcen passend nutzen. Voraussetzung ist eine enge Zusammenarbeit zwischen IT-, OT- und Produktionsteams. Erst dieses Zusammenspiel ermöglicht es, digitale Werkzeuge praxisnah einzusetzen und zusätzliche Wertschöpfung aus bestehenden Anlagen zu generieren.
2. Predictive Maintenance – Wartung nach Bedarf statt nach Plan
Mit zunehmendem Alter steigt der Wartungsbedarf von Anlagen. Klassische Strategien mit festen Intervallen führen häufig zu unnötigen Eingriffen oder riskanten Verzögerungen. Erfolgt die Wartung zu spät, drohen Stillstände; wird sie zu früh durchgeführt, entstehen unnötige Kosten. Predictive Maintenance bietet hier einen klaren Vorteil: Durch die Kombination historischer Betriebsdaten mit Echtzeitinformationen und Analysesoftware lassen sich Verschleißmuster erkennen und Ausfälle vorhersagen. Wartungen können dadurch genau dann durchgeführt werden, wenn sie notwendig sind. Das reduziert ungeplante Stillstände, senkt Ersatzteil- und Personalkosten und erhöht die Anlagenverfügbarkeit – besonders bei älteren Maschinen, die nicht ohne Weiteres ersetzt werden können.
3. Cyber-Sicherheit – Schutzlücken schließen
Mit der zunehmenden Vernetzung von IT- und OT-Systemen nimmt das Risiko von Cyberangriffen deutlich zu. Ältere Anlagen, die oft außerhalb ihres ursprünglichen Update-Zyklus betrieben werden, weisen häufig Sicherheitslücken auf. Gleichzeitig verschärfen neue Vorgaben wie die europäische NIS-2-Richtlinie die Anforderungen an Betreiber. Wer versäumt, seine Systeme auf ein aktuelles Sicherheitsniveau zu bringen, riskiert Ausfälle, Datenverluste und Reputationsschäden.
Auch im Brownfield lassen sich wirksame Schutzmaßnahmen umsetzen: Netzwerksegmentierung, kontinuierliches Monitoring, aktuelle Sicherheitssoftware, regelmäßige Updates und klare Zugriffskonzepte erhöhen die Widerstandsfähigkeit. Ebenso wichtig ist die Schulung der Mitarbeitenden, um Fehlbedienungen und Social-Engineering-Angriffe zu vermeiden.
4. Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung – Potenziale im Bestand nutzen
Nachhaltigkeit ist längst ein zentraler Wettbewerbsfaktor. Auch Bestandsanlagen bieten hier große Chancen: Ihre längere Nutzung spart Ressourcen, da Neuanschaffungen hinausgezögert werden. Gleichzeitig lassen sich durch gezielte Modernisierungen Energieverbrauch und Emissionen reduzieren. Die Grundlage dafür ist Transparenz. Nur wenn Energie- und Materialflüsse in Echtzeit erfasst werden, lassen sie sich gezielt optimieren. Energiemanagementsysteme helfen, Lastspitzen zu glätten und den Verbrauch an Produktionsbedarfe anzupassen. Weitere Hebel sind Prozessoptimierungen wie Wärmerückgewinnung oder der Einsatz energieeffizienter Antriebe. Unternehmen, die Nachhaltigkeit strategisch verankern und digitale Tools zur Erfolgskontrolle nutzen, können Fortschritte messbar machen und ihre Marktposition stärken.
Fazit – Zukunftsfähigkeit braucht Substanz
Während Industrie 5.0 als Vision diskutiert wird, stehen viele Unternehmen noch mitten in der Umsetzung von Industrie 4.0 – oder sogar davor. Investitionsbudgets sind knapp, Maschinenparks altern, und gleichzeitig steigen die Anforderungen an Effizienz, Sicherheit und Nachhaltigkeit. Retrofit bietet hier einen realistischen Weg: Es erfordert weniger Kapital als ein kompletter Neubau und ermöglicht, bestehende Anlagen Schritt für Schritt an moderne Anforderungen anzupassen. Unternehmen, die konsequent auf digitale Konnektivität, Predictive Maintenance, Cyber-Sicherheit und Nachhaltigkeit setzen, sichern nicht nur die Verfügbarkeit ihrer Produktion, sondern auch deren Zukunftsfähigkeit – und schaffen damit die Substanz, auf der Industrie 5.0 eines Tages tatsächlich Realität werden kann.