Graphen ist ein „Wundermaterial“: extrem leitfähig und extrem fest, also sehr gut für elektrische und mechanische Anwendungen geeignet. Physikerinnen und Physiker der Universität Wien um Jani Kotakoski schafften es mit einer weltweit einzigartigen Methode, Graphen erstmals drastisch dehnbarer zu machen – durch Wellung wie bei einem Akkordeon. Das gibt den Weg frei für neue Anwendungsmöglichkeiten, in denen eine gewisse Dehnbarkeit nötig ist (zum Beispiel wearable electronics). In Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Wien publizieren sie den genauen Mechanismus dieses Phänomens.
Neue Wege der Materialforschung
Der erste experimentelle Nachweis von Graphen im Jahr 2004 etablierte eine komplett neue Klasse von Materialien, die sogenannten zweidimensionalen (2D) Festkörper, die nur eine einzige Schicht von Atomen dick sind. Mit dieser Dünnheit entstehen exotische Materialeigenschaften, von denen diverse Anwendungsbereiche profitieren könnten. Graphen sticht hierbei mit seiner enormen elektrischen Leitfähigkeit heraus, allerdings ist es auch sehr zugfest. Diese extreme Zugfestigkeit ist ein Resultat der bienenwabenförmigen Anordnung der Atome im Material. Das Entfernen einiger Atome aus dem Material samt damit einhergehender Bindungen sollte intuitiv zu einer Verringerung dieser Zugfestigkeit führen, doch wissenschaftliche Studien zeigten sowohl eine kleine Verringerung als auch eine starke Erhöhung dieser.
Diese Widersprüche konnten durch neue Messungen von Forscherinnen und Forscher um Gruppenleiter Jani Kotakoski an der Universität Wien nun aufgeklärt werden. Durchgeführt wurden die Experimente mit hochmodernen Geräten in luftleeren ultrasauberen Kammern, welche durch ebenfalls luftleere Metallröhren miteinander verbunden waren. Dadurch konnten die Proben von einem Gerät zum anderen gelangen, ohne jemals in Kontakt mit der Umgebungsluft zu kommen. „Dieses einzigartige System, das wir an der Universität Wien entwickelt haben, ermöglicht uns eine ungestörte Untersuchung von 2D-Materialien“, erklärt Jani Kotakoski. Wael Joudi, Erstautor der Studie fügt hinzu: „Damit ist es uns erstmals gelungen das Graphen während dieser Art von Experimenten dauerhaft von der Umgebungsluft und den darin enthaltenen Fremdpartikeln zu isolieren. Andernfalls würden sich diese innerhalb kürzester Zeit auf der Oberfläche ablagern und sowohl die Versuchsdurchführung als auch die Messung beeinflussen.“
Akkordeoneffekt entlarvt alte Irrtümer
Tatsächlich führte der Fokus auf penible Sauberkeit der Materialoberfläche zur Entdeckung des sogenannten Akkordeoneffekts bezüglich der mechanischen Zugfestigkeit von Graphen: Bereits die Entfernung von nur zwei benachbarten Atomen verursacht eine gewisse Wölbung des ursprünglich flachen Materials. Zusammen resultieren mehrere solcher Wölbungen in einer Wellung des Graphens: „Man kann sich das wie ein Akkordeon vorstellen. Beim Auseinanderziehen werden diese Wellen abgeflacht, was wesentlich weniger Kraft benötigt als das flache Material zu spannen, wodurch es schließlich dehnbarer wird“, erklärt Wael Joudi. Von den theoretischen Physikerinnen und Physikern der Technischen Universität Wien Rika Saskia Windisch und Florian Libisch durchgeführte Simulationen bestätigen sowohl die Wellenbildung als auch die daraus resultierende geringere Zugfestigkeit des Materials.
Während der Experimente zeigte sich auch, dass Fremdpartikel auf der Materialoberfläche diesen Effekt nicht nur unterdrücken, sondern sogar eine gegenteilige Wirkung hervorrufen. Konkret erscheint das Material dadurch zugfester, was auch die Widersprüche in der Vergangenheit erklärt. „Damit zeigen wir die Wichtigkeit der Messumgebung im Umgang mit 2D-Materialien. Die Ergebnisse öffnen einen Weg zur Regulierung der Zugfestigkeit von Graphen und legen damit den Weg frei für potenzielle Anwendungen“, so Wael Joudi abschließend.