Lücke im Katastrophenschutz schließen Drohne mit Ohren

Nach Katastrophen werden zunehmend Drohnen eingesetzt, um schnell große Gebiete mit zerstörter Infrastruktur zu überfliegen, Hilfesuchende zu orten und die Reaktionsfähigkeit der Rettungsteams zu beschleunigen.

Bild: Fraunhofer FKIE
04.12.2023

Nach einer Katastrophe zählt jede Minute. Bei der Suche nach Überlebenden werden oftmals unbemannte Luftfahrzeuge (UAV) eingesetzt, die in schwer zugänglichen Gebieten ein erstes Lagebild liefern und helfen, Opfer aufzuspüren – sofern diese sichtbar sind. Forschende am Fraunhofer FKIE wollen mit einer neuen Technologie eine Lücke im Katastrophenschutz schließen: Mit Mikrofon-Arrays ausgestattete Drohnen sollen künftig die Hilfeschreie und akustische Signale Hilfesuchender aus der Luft gezielt orten und Bergungskräften die Standortdaten der Verletzten liefern. Das erhöht deutlich die Chancen auf eine schnelle Rettung von Verschütteten, die nicht per Kamera entdeckt werden können.

Überschwemmungen in Libyen, Griechenland und Slowenien, Brände auf Hawaii und Teneriffa, Erdbeben in der Türkei und in Marokko – wird eine Region von einer Naturkatastrophe betroffen, zählt jede Minute, um die Verletzten zu retten. Doch die Suche nach Überlebenden ist komplex, Gebäude und Straßen können beschädigt, große Gebiete nicht zugänglich sein.

Daher werden zunehmend Drohnen mit Tageslicht- und Wärmebildkameras an Bord eingesetzt, um schnell große Gebiete mit zerstörter Infrastruktur zu überfliegen, Hilfesuchende zu orten und die Reaktionsfähigkeit der Rettungsteams zu beschleunigen. Das Problem: Unter Trümmern eingeschlossene Opfer sind für diese bildgebenden Sensoren nicht sichtbar.

Auch bei dickem Rauch, Nebel und Dunkelheit sind den Kameras Grenzen gesetzt. Für diese Szenarien entwerfen Forschende am Fraunhofer FKIE eine Lösung, die die Kameras um akustische Sensoren ergänzt: Mit Lucy, kurz für Listening system Using a Crow’s nest arraY, entwickelt die Fraunhofer-FKIE-Wissenschaftlerin Macarena Varela zusammen mit Kollegen und dem Forschungsgruppenleiter Dr. Marc Oispuu eine Technologie, die Verschütteten und von Bränden Eingeschlossenen das Leben retten kann.

Mikrofon-Array empfängt Signale aus allen Richtungen

Bei Lucy handelt es sich um ein Array von MEMS-Mikrofonen, ein sogenanntes Krähennest-Array, das an Drohnen montiert wird, um die Einfallsrichtung von Geräuschen wie Hilferufe, Klatschen oder Klopfsignale zu bestimmen.

Die robusten, winzigen MEMS-Mikrofone sind kostengünstig und werden beispielsweise in Smartphones verwendet. Die Besonderheit des Systems: Die Mikrofone werden in einer speziellen geometrischen Anordnung an der Unterseite der Drohne angebracht und können Schall aus allen Richtungen wahrnehmen. „Der höchste Aussichtspunkt auf Schiffen wird als Crow‘s nest bezeichnet, von dort aus kann man in alle Richtungen sehen. Dies gilt auch für Lucy, unser System kann quasi uneingeschränkt in alle Richtungen hören“, erläutert die Forscherin.
Lucy funktioniert ähnlich wie das menschliche Ohr, das Schallinformationen aufnimmt und an das Gehirn weiterleitet, wo sie analysiert werden. Bei dem Array-System werden die Ohren durch Mikrofone ersetzt, das Gehirn durch eine Signalverarbeitungseinheit, die die Einfallsrichtung der Geräusche schätzt.

Da Lucy aktuell nicht nur zwei, sondern 48 Mikrofone umfasst, kann die Richtung der Schallquelle präzise bestimmt werden. „Räumliches Hören funktioniert mit 48 und mehr Mikrofonen natürlich besser als mit zwei akustischen Sensoren, und auch das gezielte Hören in eine Richtung klappt besser, ebenso wie das Weghören“, sagt Dr. Oispuu. Zudem nimmt das System Frequenzen wahr, die das menschliche Ohr nicht registrieren kann. Die Anzahl der Mikrofone soll künftig auf 256 Sensoren erweitert werden, die Signale in Echtzeit verarbeiten können.

Störende Umgebungsgeräusche werden herausgefiltert

Störende Umgebungsgeräusche etwa von Bergungsgeräten, Wind oder Vögeln, aber auch vom Rotorensurren der Drohne selbst blendet das System aus. Mit Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) und mithilfe von adaptiven Filtern werden zum einen Signale herausgefiltert, zum anderen werden Lautmuster wie Schreien, Schlagen oder Klatschen, mit denen Menschen in Notfallsituationen auf sich aufmerksam machen, erlernt.

Das System bedient sich dabei einer Datenbank mit unterschiedlichen Geräuschen beziehungsweise Signaturen, auf die die KI zuvor trainiert wurde. In Kombination mit Signalverarbeitungstechniken wie Coherent Beamforming werden Geräusche detektiert, klassifiziert und wird deren Einfallswinkel präzise bestimmt.

Eine kompakte Processing Unit ermöglicht es darüber hinaus, Signale sehr schnell zu verarbeiten. Die empfangenen Standortdaten sollen im Katastrophenfall an die Rettungsteams übermittelt werden, die dann zum Beispiel auf Tablets die exakten Positionen der Hilfesuchenden erkennen können.

Leichtgewicht Lucy

Die Sensormodule beziehungsweise die Mikrofon-Arrays sind aufgrund ihrer Skalierbarkeit auf vielen handelsüblichen Drohnen einsetzbar. Da sowohl die MEMS-Technologie als auch die Drohnen preisgünstig sind, bietet es sich an, mehrere unbemannte Luftfahrzeuge einzusetzen, um das Katastrophengebiet effektiv erkunden zu können.

Aufgrund seines geringen Gewichts können Notfallhelfer das System Lucy auch tragen. Zudem lässt es sich auf Bodenfahrzeugen montieren oder stationär einsetzen. Derzeit arbeiten die Fraunhofer-FKIE-Forschenden an weiteren Verbesserungen des Experimentalsystems.

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