Moderne Prozessleittechnik für ein Müllheizkraftwerk Optimal eingebunden

Das Mullheizkraftwerk in Wuppertal hat sich für ein neues Prozessleitsystem entschieden, damit alle Monitore, Alarme und Prozessobjekte in einem System eingebunden sind.

Bild: iStock, JamesBrey
29.08.2018

250.000 Alarme, mehr als 10.000 Prozessobjekte, 54 Monitore – wie lassen sich so viele Geräte verschiedenster Hersteller in ein einziges Prozessleitsystem einbinden? Ein Müllheizkraftwerk in Wuppertal macht vor, wie es gehen kann...

Für die thermische Behandlung von Abfällen betreibt die AWG Abfallwirtschaftsgesellschaft Wuppertal ein Müllheizkraftwerk mit fünf Verbrennungslinien, vier Rauchgasvorreinigungen, drei Rauchgasnachreinigungen und zwei Turbinen für eine Abfalltonnage von etwa 400.000 t pro Jahr. Nachdem die Leittechnik vom bisherigen Lieferanten abgekündigt worden war, sollte eine Modernisierung in zwei Stufen erfolgen:

  • Stufe 1: Aktualisierung der Bedien- und Beobachtungsebene, Integration der Gebäudeleit- und Schalttechnik;

  • Stufe 2: Migration der kompletten Automatisierungstechnik.

Bei der ersten Stufe bestand die Herausforderung darin, die unterschiedlichen Steuerungen und Schaltgeräte anzubinden. Hinzu kam die Anforderung, dass alle Arbeiten während des laufenden Anlagenbetriebs durchgeführt werden mussten, da viele Endverbraucher von der Fernwärme abhängig sind und die Nichteinhaltung der Verträge mit den Kommunen zu Vertragsstrafen geführt hätte. Zudem wäre ein Anlagenausfall im schlimmsten Fall mit einem unkontrollierten Austritt von Rauchgasen verbunden, was ein Umwelt- und Gesundheitsrisiko darstellt. Zusätzlich erwartete AWG, dass sich alle Bediener schnell in das neue System einfinden und mit ihm vertraut werden können.

Erfolgreicher Systemtest

In einer umfangreichen Ausschreibung im Jahr 2014 konnten sich drei Unternehmen qualifizieren, darunter die Focus Industrieautomation, ein Siemens Solution Partner. Jeder Anbieter musste in einem Systemtest nachweisen, dass seine Lösung die vorhandene Automatisierungstechnik nahtlos integrieren kann. Im März 2015 bekam Focus den Zuschlag und realisierte bis November 2016 die Stufe 1, den Austausch der Bedien- und Beobachtungsebene.

Das Leitsystem wurde im laufenden Betrieb auf Simatic PCS 7 mit der Komponente PCS 7/Open OS von Siemens umgestellt. Dafür wurde das neue System zunächst zu 100 Prozent im Parallelbetrieb geprüft. Anschließend wurde die Hälfte der alten Bedienstationen durch die neuen Simatic-Stationen ersetzt. Während einer vierwöchigen Testphase erfolgten dann eine Systemprüfung und die Schulung der Bediener. Im Anschluss daran konnte das Altsystem abgeschaltet und die neue PCS-7-Leittechnik vollständig in Betrieb genommen werden.

Die neue Leittechniklösung ist bestmöglich strukturiert, inklusive einer transparenten Dokumentation und Prozessbeschreibung. 400 Prozessbilder wurden ins neue System übernommen, und mehr als 10.000 Prozessobjekte in 35 Basistypen mit etwa 250 verschiedenen Ansichten überführt. Zur Konvertierung aller Prozessbilder des vorherigen Leitsystems und zu deren Einbindung ins neue System kam WinCC/ODK (Open Development Kit) zum Einsatz. Seitdem werden etwa 70.000 Prozessvariablen über das Bedien- und Beobachtungssystem ausgetauscht.

Im Simatic-PCS-7-Leitsystem sind vorher eigenständige Systeme wie das abgekündigte Bedien- und Beobachtungssystem, die Gebäudeleittechnik eines Drittanbieters und die Sicam-Pas-Mittelspannungsschalttechnik zusammengeführt. Jetzt stehen den Anlagenfahrern alle Informationen in einem einheitlichen Leitsystem zur Verfügung. Vorbei die Zeiten unterschiedlicher Bedienphilosophien, Berichtswesen und Datenstrukturen – heute ermöglicht die neue Simatic-Lösung ein identisches Alarming und eine einheitliche Bedienung aller Teilsysteme.

Virtuelle Technik

Die Simatic-Lösung basiert durchgängig auf virtueller Technik. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die hohe Systemverfügbarkeit gelegt. Diese ist unter anderem durch den redundanten Aufbau sämtlicher Server, Storages, Netzwerkinfrastruktur, Zeitserver und USVs gewährleistet. Zudem sind die redundanten Systeme räumlich voneinander getrennt. Ein virtueller Cluster sorgt für die ständige Verfügbarkeit der Betriebssysteme. Beide Server sind so ausgelegt, dass im Fehlerfall ein Server allein das gesamte System übernehmen kann – Stichwort redundanter Storage Cluster.

Die Netzwerktopologie ist von der Steuerung bis zum Bedienplatz hochverfügbar ausgelegt. Dazu sind die Netzwerke funktional getrennt. Die Kommunikation zwischen den Servern und den Steuerungen übernehmen zwei autarke Anlagenbusringe und insgesamt 21 OPC-Server. Der Terminalbus zur Anbindung der Bedienstationen wurde mittels Scalance X524 und Scalance X204RNA als Doppelringnetzwerk und damit zweifach redundant bis hin zum Thin Client ausgelegt. Ein Sinema-Server übernimmt die Überwachung des gesamten Netzwerks.

Sicherer Zugang

Aufgrund der Anlagenstruktur des Kraftwerks kommen zwei redundante OS-Serverpaare zum Einsatz. Die Bedienung erfolgt über elf PCS-7-OS-Clients für Bediener und Schichtleiter. Jeder Client verfügt über vier Monitore. Die sechs Großbildschirme in der Leitwarte sind über zwei PCS-7-OS-Clients angebunden.

Neben den virtuellen Simatic-Clients stehen vier weitere virtuelle Engineering-Arbeitsplätze für die Systempflege und die Wartung zur Verfügung. Um einen sicheren Zugang zum Leitsystem zu gewährleisten, erfolgt der Zugriff aus der Officewelt über eine Firewall. Der PCS-7-OS-Webserver wurde in einer eigens geschaffenen DMZ (demilitarisierte Zone) installiert. Der gleichzeitige Zugriff mehrerer Benutzer auf den PCS-7-Runtime-Viewer erfolgt über einen Terminalserver.

Das Siemens-System vereinheitlicht unterschiedliche Bedien- und Visualisierungsformen sowie deren Alarmsysteme. Maschinennahe Steuerungen verschiedener Hersteller lassen sich nahtlos in die PCS-7-Leittechnik integrieren. Der gesamte hochkomplexe Verbrennungsprozess muss 365 Tage im Jahr rund um die Uhr reibungslos funktionieren.

Das neue Bedien- und Beobachtungssystem von Siemens übernimmt die Überwachung aller Prozessobjekte – von der Initialzündung in den Brennern über die Stromerzeugung im Generator bis zur Emissionsüberwachung in der Rauchgasanlage. Jeder Bediener überwacht bis zu zwölf Bildschirme gleichzeitig. Durch die übersichtliche, an das Altsystem angelehnte Darstellung hat der Anlagenfahrer alle wichtigen Informationen im Blick. Neue Systeme und Komponenten lassen sich jederzeit und herstelleroffen im laufenden Betrieb integrieren.

Weitere Modernisierungen geplant

Kaum ist die erste Stufe der Anlagenmodernisierung abgeschlossen, da sind schon die nächsten Schritte vollzogen. So haben die Focus-Techniker bereits die beiden neuen Diesel-Notstromaggregate mit einer Leistung von jeweils 2 MW in das Simatic-Leitsystem integriert. Auch wurden erste Schritte zur Visualisierung des bestehenden Fernwärmesystems der benachbarten Kohle- und Gaskraftwerke erfolgreich umgesetzt. Innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre soll Stufe 2 – die Modernisierung der kompletten Automatisierungstechnik mit AS-410-Controllern von Simatic PCS 7 – abgeschlossen sein.

Für erste Tests ist bereits ein hochverfügbarer AS 410 im Einsatz. Ein weiteres redundantes PCS-7-Serverpaar soll bald folgen. Ist die Feldebene derzeit noch klassisch verdrahtet, so wird zukünftig auch bei AWG mehr auf Buskommunikation und damit Profinet/Profibus gesetzt. Die Projektplaner sind sich schon jetzt einig, dass hierfür die dezentrale Peripherie Simatic ET 200 zum Einsatz kommen wird.

Bildergalerie

  • Das neue Prozessleitsystem erlaubt eine Integration der gesamten Gebäudeleit- und Schalttechnik, mit Komponenten unterschiedlichster Hersteller.

    Das neue Prozessleitsystem erlaubt eine Integration der gesamten Gebäudeleit- und Schalttechnik, mit Komponenten unterschiedlichster Hersteller.

    Bild: Siemens

  • Mehr als 10.000 Prozessobjekte in der Verbrennung, Rauchgasreinigung und Energieerzeugung lassen sich einheitlich und übersichtlich überwachen.

    Mehr als 10.000 Prozessobjekte in der Verbrennung, Rauchgasreinigung und Energieerzeugung lassen sich einheitlich und übersichtlich überwachen.

    Bild: Siemens

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