Panel-Talk: Entwicklung der Energieversorgung aus industrieller Sicht Ist energieautarke Industrie unerreichbares Ideal oder realistische Chance?

Im Panel-Talk ging es unter anderem um die die Rolle der Energiebeschaffung, Klimaneutralität und in welche Richtung sich die Energieversorgung zukünftig entwickeln könnte.

Bild: iStock, bagotaj
04.01.2024

Dezentralität, Resilienz und Erneuerbarkeit sind die zentralen Eckpfeiler, die die Energieversorgung in Deutschland, insbesondere im Industriesektor, maßgeblich prägen. Doch wie sieht die Zukunft der industriellen Energieversorgung aus?

Gas, Strom und Wärme – diese Themen sind mittlerweile nicht nur für klassische energieintensive Industriebranchen, sondern auch für andere Sektoren von Bedeutung. Mehr und mehr werden sie sogar zu zentralen Anliegen der Geschäftsführung. Die Suche nach zuverlässigen, sicher verfügbaren, klimaneutralen und kostengünstigen Energiequellen ist für viele Bereiche von großer Relevanz. Im Zusammenhang damit wird immer wieder das Konzept der Autarkie in der Energieversorgung diskutiert – die Idee, unabhängige Versorgungslösungen zu schaffen.

Einen gemeinsamen Blick auf die Entwicklung der Energieversorgung in Deutschland werfen aus industrieller Perspektive Matthias Lamp, Bereichsleiter bei GP Joule, Timo Dell, Bereichsleiter Vertrieb und neue Geschäftsfelder beim IT-Infrastrukturexperten rku.it und Vorstand des Bundesverbandes der Energiedienstleister, Prof. P. Komarnicki, Leiter der Abteilung Energiesysteme und Infrastruktur am Fraunhofer IFF und Professor für elektrische Energieanlagen an der Hochschule Magdeburg Stendal und Matthias Zelinger, Leiter des Kompetenzzentrum Klima und Energie beim VDMA.

Wie hat sich die Rolle der Energiebeschaffung in den letzten Jahren verändert?

Zelinger

Die Rolle der Energiebeschaffung hat sich stark gewandelt. Es war früher eher ein Herzensthema, aber jetzt ist es zu einem geschäftskritischen Bereich geworden, insbesondere durch die Transformation mit Klimazielen. Unternehmen haben erkannt, dass sie sich selbst um ihre Energieversorgung kümmern müssen. Der Preisdruck und die Unsicherheit haben dazu geführt, dass immer mehr langfristige Partnerschaften aufgebaut werden. Allerdings ist gerade der kleine Mittelstand oft nicht gut aufgestellt, um dies zu bewältigen.

Matthias, wie siehst du das?

Lamp

Nachhaltigkeit war für viele Jahre eher ein Hygienefaktor, aber in den letzten anderthalb Jahren hat sich das geändert. Unternehmen haben erkannt, dass Nachhaltigkeit eine geschäftskritische Relevanz hat. Die Erfahrungen des letzten Jahres haben gezeigt, dass fossile Energien nicht immer zu einem kalkulierbaren Preis verfügbar sind. Das hat vielen Unternehmen schmerzlich bewusst gemacht, dass sie sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen müssen.

Kommen wir zum Thema CO2- und Klimaneutralität. Ist es nicht auch ein Faktor für die deutsche Industrie, die oft Vorprodukte herstellt? Wird die Nachweisbarkeit von Klimaneutralität zum Hygienefaktor für das Produkt, weil Kunden eine klimaneutrale Lieferkette anstreben?

Lamp

Die Relevanz des Themas hängt stark von den Produkten ab. Es gibt Branchen, in denen Kunden noch nie danach gefragt haben: zum Beispiel beim Kauf von Badewannen oder Waschbecken. Wenn jemand sein Badezimmer renoviert und eine Badewanne sowie ein Waschbecken kauft, wird er wahrscheinlich nicht unbedingt danach fragen, ob diese Produkte klimaneutral hergestellt wurden. Dennoch ist der Einsatz fossiler Energien in allen Bereichen präsent und ihre Kosten sind aufgrund des Konflikts in der Ukraine gestiegen. Dies zeigt die Auswirkungen der Abhängigkeit von fossilen Energien und die Wahrscheinlichkeit steigender CO2-Preise, die sich letztendlich auf die Produkte auswirken. Nicht ohne Grund ist die Energiewende, getrieben durch den Übergang von fossilen zu erneuerbaren Energien, zu einem wichtigen Innovationsmotor geworden.

Komarnicki

Tatsächlich beobachten wir Unterschiede in diesem Ansatz, je nach Produkt und Unternehmensgröße. Einige Unternehmen, insbesondere in der Lebensmittelindustrie, die ihre Exportmärkte außerhalb Europas sehen, ergreifen bereits Maßnahmen. Hierbei handelt es sich nicht nur um das bilanzierte CO2-Management, sondern auch um die Umstellung ihrer Produkte auf umweltfreundlichere Alternativen. Ein weiteres Beispiel ist die Automobilindustrie, in der einige Unternehmen bereits erheblichem Druck ausgesetzt sind, um nachhaltige Produkte bereitzustellen. Jedoch ist der europäische Markt derzeit nicht immer das Hauptaugenmerk. Auf der anderen Seite gibt es Unternehmen, die sich schon lange mit dem Thema auseinandersetzen und Strategien entwickelt haben, wobei die Unabhängigkeit von Versorgungsnetzen eine wichtige Rolle spielt. Für kleine Unternehmen ist es oft schwierig, Ressourcen für erneuerbare Energien aufzubringen. Das Thema Nachhaltigkeit hat jedoch allgemein in den letzten eineinhalb Jahren an Bedeutung gewonnen.

Dell

Viele unserer Kunden sehen Nachhaltigkeit nicht nur im Zusammenhang mit der Beschaffung, über die wir bereits gesprochen haben. Es geht auch um Effizienz. Wie können sie den Energieverbrauch ihrer Anlagen optimieren - und das gilt auch für Haushalte, nicht nur für die Industrie? Wie kann die Anlagentechnik verbessert werden? Dieses Thema der effizienten Stromnutzung steht bei uns ganz oben auf der Agenda. Ein weiterer Aspekt ist, inwieweit dieses Thema in der Digitalisierungsstrategie eines Unternehmens verankert ist. Wir beobachten, dass nach den jüngsten wirtschaftlichen Herausforderungen das Thema Energieeffizienz und -bezug immer stärker in die übergeordnete Unternehmensstrategie integriert wird.

Lamp

Obwohl viele die Effizienz aus einer bestimmten Perspektive betrachten, etwa durch den Kauf effizienterer Maschinen, plädieren wir für eine systemische Sichtweise. Oft sehen wir, dass ein Industriebetrieb Geld ausgibt, um Abwärme loszuwerden, während ein Nachbar diese Abwärme benötigt. Hier liegt großes Potenzial, und es wäre sinnvoller, bereichsübergreifend zwischen Themen wie Wärme und Strom Effizienzen zu suchen, anstatt sich nur auf einzelne Geräteklassen zu konzentrieren.

Wie sinnvoll und wünschenswert ist die Autarkie und Unabhängigkeit vom Netz?

Zelinger

Das Konzept der Autarkie kann missverstanden werden. Es ist wichtig, das Potenzial des Unternehmens zu nutzen, aber auch in Partnerschaften und im Austausch mit dem Netz die effizienteste und resilienteste Energiestrategie zu entwickeln. Effizienz umfasst klassische, dynamische und systemische Aspekte. Zusammenarbeit und klare Regeln sind entscheidend, unterstützt durch Digitalisierung.

Sind Peer-to-Peer-Ansätze zwischen Partnern, wie zum Beispiel zwei Industrieunternehmen realistisch und umsetzbar? Vielleicht auch bei nicht elektrischen Energieformen wie Wärme.

Lamp

Es ist wichtig zu beachten, dass die Form der Wärme eine Rolle spielt. Wenn es sich um diffuse Abwärme handelt, kann es schwieriger sein. Bei vorhandener Wärme im Kühlwasser ist es sicherlich umsetzbar. Die einfachsten Anwendungsfälle sind zum Beispiel die Nutzung von Abwärme aus Biogasanlagen oder die Verwendung von Abwärme aus Wasserstoffelektrolyse. Es ist möglich, aber die Komplexität hängt von den konkreten Bedingungen ab. Der Preis für Wärme wird auch die Entscheidung beeinflussen.

Zelinger

Es kommt häufig vor, dass sich Partner in einem Industriepark oder einer Region zusammenschließen. Trotz aller bestehenden Regelungen, insbesondere im Wärmebereich, ist dies eigentlich kein Problem. Zum Beispiel, dass ein Unternehmen seinen Nachbarn mit Wärme beliefert und man gemeinsam eine effiziente Messung durchführt. Das ist nach meiner Erfahrung tatsächlich unkompliziert möglich. Ich glaube auch, dass man für andere Fragen heute sehr wohl Lösungen findet, weil man viel mehr Wert darauf legt. Deshalb möchte ich wirklich dazu ermutigen, es im Zweifelsfall einfach auszuprobieren. Dann wird sich auch eine Lösung finden, sei es bei der Steuererklärung oder bei anderen Formalitäten.

Komarnicki

Unsere Erfahrungen mit Effizienznetzwerken, insbesondere in Chemieparks, zeigen: Es ist wichtig, Synergien zu identifizieren. Unternehmen sollten sich darauf konzentrieren, was sie bereits haben und was sie als Mehrwert anbieten können. Auf den ersten Blick mögen sich Firmen vielleicht als Konkurrenten sehen, aber in Bezug auf Energie können sie voneinander profitieren. Es gibt technische Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Nutzung der Abwärme eines Rechenzentrums. Wichtig ist jedoch die Berücksichtigung der Qualität des Nutzens und die Abwägung des wirtschaftlichen Aufwands. Effizienzmaßnahmen sollten in Unternehmen und Regionen Vorrang vor neuen Technologien haben. Nachhaltigkeit und Effizienz müssen im Gleichgewicht gehalten werden.

Zelinger

Ich denke, es ist wirklich wichtig, zwischen dem, was neu gebaut wird, und dem, was in bestehenden Anlagen passiert, zu unterscheiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass heute jemand eine Elektrolyseanlage baut, ohne sich vorher Gedanken über die Wirtschaftlichkeit zu machen. Wo kann ich die anfallende Wärme nutzen? Sonst wird es aus meiner Sicht sehr schwierig. Ganz anders sieht es aber aus, wenn es um bestehende Probleme geht. Zum Beispiel eine große Druckluftstation mit Abwärme oder alte Öfen – die gibt es schon lange und man muss nur herausfinden, dass der Nachbar sie nutzen kann. Ich glaube, das ist etwas ganz anderes. Es ist ein bisschen wie der Vergleich zwischen einem Neubau, der vielleicht das kleinere Problem ist, und der Modernisierung einer bestehenden Anlage, die eine viel größere Herausforderung sein kann.

Wer könnte die treibende Kraft sein, um potenzielle Partner für diese regionalen Hands-on-Lösungen zu finden?

Dell

Im Bereich der Energieversorger werden aus unserer Sicht die klassischen Stadtwerke mit ihrer Funktion der Daseinsvorsorge weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Einige gute Modelle sind bereits am Markt etabliert, insgesamt besteht aber noch Nachholbedarf. Einige Pioniere haben sich hier bereits auf den Weg gemacht und beraten Industrie und Privathaushalte. Ein interessanter Aspekt ist die Zusammenführung der verschiedenen Akteure in einem dezentralen Energiesystem. Um die Kommunikation zwischen den Akteuren zu ermöglichen, ist in vielen Fällen ein neutraler Vermittler nötig. Hier kann ein kommunales Stadtwerk als Partner im Rahmen eines Smart-City-Ansatzes die richtige Wahl sein.

Lamp

Bei der Verantwortung der Industrie sehe ich einen deutlichen Wandel. Es ist nicht mehr damit getan, sich auf Stadtwerke oder dezentrale Versorger zu verlassen. Unternehmen haben die Möglichkeit, ihre eigene Energie zu produzieren – sei es auf dem Dach oder auf Freiflächen. Dies erfordert jedoch großes Engagement und. Es ist nicht notwendig, dass jeder die Lösungen von Grund auf neu entwickelt, aber die Initiative sollte von den Unternehmen selbst ausgehen.

Komarnicki

Da bin ich ganz deiner Meinung. Und zu dir, Christian: Es kommt auf die Region und die Struktur an. In einigen Industrieparks treten die Industrieparkbetreiber als Multi-Energieversorger für die produzierenden Unternehmen auf. Bieten verschiedene Dienstleistungen an, zum Beispiel die Planung von Anlagen und Beratung. Es gibt aber auch kleinere Industrie- und Gewerbeparks, wo die Unternehmen selbst die Initiative ergreifen müssen. In diesen Fällen können externe Unternehmen eine Hilfe sein. Die Struktur ist also sehr unterschiedlich, und es gilt, die jeweils am besten geeignete Lösung zu finden. Zu bedenken ist auch, dass externe Anbieter nicht immer Zugang zu Industrieparks mit Industrieparkbetreiber haben.

Zelinger

Die Rolle der Stadt- und Gemeindewerke ist dabei nicht im klassischen Sinne zu verstehen. Es geht darum, Geschäftsmodelle für Aggregatoren und Unternehmen zu entwickeln, die zusammenarbeiten, kooperieren und Projekte durchführen. Wichtig ist, dass jedes Unternehmen offen und aufgeschlossen ist, um Potenziale zu erkennen. Regionale Stadtwerke können in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, aber auch andere Lieferanten und Dienstleister können mit einbezogen werden. Entscheidend ist, dass sich jemand dieser Aufgabe annimmt und sich mit den Kunden vertraut macht. Gut wäre es, wenn externe Impulse zu Projektpartnerschaften zwischen Unternehmen führen.

Es ging lange um Effizienz und den möglichst geringen Energieverbrauch. Jetzt haben wir jedoch in unseren Netzen aufgrund der volatilen Einspeisung von erneuerbaren Energien oft überschüssige Energie. Wie steht es um das Thema Demand Side Management? Es geht darum, Energie zu verbrauchen, wenn sie verfügbar ist, anstatt zu verhandeln, und klassische Lastspitzen zu vermeiden. Welche Priorität hat dieses Thema?

Dell

Die Sicherung der Netzstabilität wird in Zukunft eine der wichtigsten Aufgaben sein, insbesondere für die Energieversorger. Wir brauchen Netze, damit die Energiewende funktioniert. Das One-Size-Fits-All-Modell, bei dem alle Verbraucher die gleiche Umlage und den gleichen Preis pro Kilowattstunde haben, wird nicht mehr funktionieren. Wir brauchen Flexibilität auf individueller Ebene und ein intelligentes Modell, das intelligente Verbrauchsanalysen ermöglicht. Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Wir brauchen eine genaue Analyse, um zu wissen, was in unserem Netz passiert, und um entsprechend steuern und schalten zu können, um die erzeugte Energie effizient dorthin zu bringen, wo sie gerade gebraucht wird. Das ist ein wichtiger Aspekt. Und das ist letztlich auch ein Ziel des Klimaschutzes. Wir sehen hier mindestens drei Aspekte: Erstens das Verbraucherverhalten in Bezug auf Konsum, Mobilität, Wohnen und Ernährung. Zweitens die Infrastruktur, wie der Ausbau der erneuerbaren Energieerzeuger und die Beschaffenheit der Netze. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Speichertechnologien. Drittens geht es um Algorithmen und künstliche Intelligenz. Wie können wir den Betrieb in einer bestehenden Infrastruktur optimal und vorausschauend gestalten?

Wer ist der Partner der Industrie für diese intelligenten Modelle?

Dell

Ich glaube, dass wir auch innerhalb der Industrie gute Partner haben, gerade beim Thema Digitalisierung. Da gibt es viele große Unternehmen, die schon Modelle entwickelt haben, um in diesem Bereich Fuß zu fassen und auch Energieströme zu steuern.

Komarnicki

Mehrere Projekte sind in Deutschland durchgeführt worden. Es wurden verschiedene Branchen und Prozesse untersucht, um das technische Potenzial zur Lastverschiebung zu ermitteln. Dabei konnten zwei Erkenntnisse gewonnen werden: Erstens gibt es viele Prozesse, bei denen keine Lastverschiebung möglich ist. Dies ist beispielsweise in der chemischen Industrie oft der Fall. Die zweite Erkenntnis war, dass es derzeit keinen Markt für das Potenzial der Lastflexibilität gibt, obwohl dies technisch möglich wäre. Die aktuelle Situation zeigt, dass wirtschaftliche Barrieren bestehen, Lastflexibilität großflächig zu etablieren. Es ist wichtig, dass auch die Lastseite einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leistet. Der Fokus darf nicht nur auf der Erzeugungsseite liegen. Der Markt ist teilweise sehr reglementiert und lässt neue Geschäftsmodelle etwa zur Lastflexibilität noch nicht zu.

Lamp

Im letzten Jahr haben wir alle einen großen Feldversuch außerhalb des wissenschaftlichen Rahmens erlebt. Unternehmen haben uns angerufen und gesagt, ihr Geschäft stehe mit dem Rücken zur Wand. Flexibilität war gefragt. Einige Unternehmen fragten sich, warum sie von Montag bis Freitag produzieren müssen, wenn die Lastspitzen am höchsten sind. Aufgrund der niedrigeren Strompreise entschieden sie sich stattdessen, von Dienstag bis Samstag zu produzieren. Warum sollten sie im Sommer um sieben Uhr beginnen zu produzieren, wenn der Börsenstrompreis ab zehn Uhr sinkt, weil die Sonne scheint? Natürlich gibt es auch Unternehmen, die auf Grund ihrer Prozesse gar nicht flexibel sein können. Aber es gibt viele Möglichkeiten und ich glaube, dass der Markt langfristig vieles regeln wird. Wenn der CO2-Preis steigt und seine volle Wirkung entfaltet, wird beispielsweise der Börsenstrompreis Einfluss darauf haben, wann welche Aktivitäten durchgeführt werden.

Zelinger

Bisher haben wir offensichtlich genug Flexibilität im Markt. Vor ein paar Jahren gab es negative Preise, aber sie sind schnell wieder verschwunden, was darauf hindeutet, dass Flexibilität geschaffen wurde, um den Strom aufzunehmen. Wenn das Preissignal beim Kunden ankommt, bewegt er sich. Allerdings hat das System eine gewisse Trägheit. Es erfordert Zeit und Anlagenkonfiguration, um Lastflexibilität zu generieren. Nachrüstungen sind oft schwierig. Zum Beispiel kann eine Druckluftanlage Flexibilität bereitstellen, wenn ein größerer Behälter eingebaut wird. Aber dafür braucht es ein entsprechendes Geschäftsmodell und Zeit, um die notwendige Flexibilität zu erreichen. Technisch gesehen bin ich optimistisch, dass wir genug Flexibilität haben. Die Frage ist, wie Flexibilität im neuen Strommarktdesign vergütet wird und welche Stufen es gibt, bis hin zum Back-up-System, wenn es kritisch wird.

Bisher haben wir über die zeitliche Flexibilität gesprochen und wie Marktsysteme Angebot und Nachfrage synchronisieren. Es gibt jedoch auch die Frage der regionalen Flexibilität. Strom wird nicht immer genau dort erzeugt, wo er benötigt wird. Wie wahrscheinlich ist es, dass Industrie wieder zur Energie zieht?

Lamp

Ja, dieses brisante politische Thema, Strompreiszonen in Deutschland einzuführen, wurde medienwirksam diskutiert. Im Norden wird viel erneuerbare Energie produziert, während die Hauptverbrauchszentren im Süden liegen. Die Erzeugungsprofile von Wind und Sonne ergänzen sich im Jahresverlauf, aber die derzeitige Strompreisstruktur spiegelt diese Realität nicht wider. Fehlende Infrastruktur erschwert den Transport von erneuerbarer Energie in den Süden, was zu ungewöhnlichen Situationen führt. Der Strompreis sinkt, wenn erneuerbare Energie eingespeist wird, aber die Verbraucher im Süden müssen dennoch auf fossile Energieträger zurückgreifen. Dies untergräbt die Idee des Umstiegs auf erneuerbare Energien und führt zu Ungerechtigkeiten bei den Netzentgelten. Ein Beispiel für die Auswirkungen von Unsicherheit ist ein Hüttenbetreiber, der Investitionen für Jahrzehnte tätigen muss, ohne zu wissen, ob sich die Bedingungen ändern werden. Dies gefährdet das Ziel der Nachhaltigkeit.

Komarnicki

Es gibt bestimmte Möglichkeiten dafür. Allerdings werden in Deutschland immer weniger neue Fabriken gebaut. Es ist unwahrscheinlich, dass bestehende große Fabriken vom Süden in den Norden verlegt werden. Wahrscheinlich wird Es jedoch eine Mischung aus regionalen Konzepten und Netztechnologien geben, um die Herausforderungen anzugehen. Es ist wichtig, eine Lösung für die bisherigen großen Industrien zu finden. Die Leistung und Skalierung des Netzausbaus ermöglicht es, einen Großteil der erzeugten Energie im Norden in den Süden zu transportieren. Dies wird eine Rolle in der Gesamtstrategie spielen.

Lamp

Eine langfristige Lösung ist der Netzausbau nicht, da die Planungszeiträume zu lang sind. Das Beispiel der SuedLink-Trasse zeigt, dass es Jahre dauert, um eine geringe Leistung zu erreichen. Eine solche Maßnahme allein wird nicht ausreichen, um die Klimawende zu bewältigen. Stattdessen sollten wir im Süden den Ausbau erneuerbarer Energien fördern. Eine Strompreis-Zonierung könnte dazu beitragen, erneuerbare Energien attraktiver zu machen und den Bedarf im Süden zu decken. Zudem könnte Wasserstoff als alternative Energieform eine größere Rolle spielen, insbesondere aufgrund der begrenzten Zeit. Die bisherigen Fortschritte und die Realität des Netzausbaus reichen nicht aus, um die Klimaziele zu erreichen.

Zelinger

Das ist kein Entweder-oder-Szenario. Wir brauchen zusätzliche Leitungen aus dem Norden, weil wir im Süden nicht genug erneuerbare Energie erzeugen können. Wir müssen den Netzausbau beschleunigen und die Zeit im Auge behalten. Es gibt klare EU-Regeln für die Einteilung der Strompreiszonen, und die nächste Überprüfung ist für 2024 vorgesehen. Wenn wir nicht aus diesem Engpass herauskommen und eine klare Perspektive haben, wird es Strompreiszonen geben. Das Problem ist, dass nicht alle Industriebetriebe vom Süden in den Norden ziehen. Ein Teil geht Richtung Osten oder sogar Richtung USA. Wir müssen uns also mit Standorten und Standortpolitik beschäftigen. Eine zentrale Forderung ist der Ausbau kostengünstiger erneuerbarer Energien im Süden, sowohl über Strom als auch möglicherweise über Wasserstoff. Hier ist jedoch Vorsicht geboten, da Wasserstoffpipelines in Deutschland noch nicht genehmigt oder gebaut sind. Angesichts des Zeitdrucks und der zunehmenden Gefährdung von Industriestandorten müssen wir handeln, auch wenn es dabei zu Widerständen kommen kann.

Zu glauben, dass ein deutsches Unternehmen, das einen neuen Standort sucht, sich nur in Norddeutschland orientieren wird, wäre zu kurz gegriffen. Weltweit bestehen viele Möglichkeiten. Auf der anderen Seite gibt es Überlegungen bis hin zu Solarparks in Indien oder in Nordafrika, die Europa oder Deutschland mit Strom versorgen könnten. Was ist eure Meinung zu internationalen Konzepten wie den Solarparks in Indien oder Nordafrika?

Zelinger

Ich glaube, der Transportmittel für erneuerbare Energie aus entfernten Standorten wird wahrscheinlich Wasserstoff oder Ammoniak sein, möglicherweise auch Stromleitungen. Ich sehe jedoch eher Potenzial in großen Solar- und Windparks in Spanien, kombiniert mit Wasserstoff als Transportmittel. Wir werden wahrscheinlich eine gewisse Regionalität beim Strom sehen, aber wir benötigen auch erneuerbare Gase und Flüssigkeiten.

Lamp

Ich befürchte, dass wir uns nicht einfach darauf verlassen können, dass andere Länder unseren Energiebedarf decken. Wir müssen uns darauf konzentrieren, unsere eigenen Bedarfe im Land zu lösen. Wenn wir dann noch Importe benötigen, ist das legitim, aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass wir im eigenen Land nichts tun müssen. Der Druck im Ausland ist ebenfalls hoch, und wir sollten eher andere Länder dabei unterstützen, ihren eigenen Wandel voranzutreiben, bevor sie uns versorgen.

Wie kritisch ist die Situation in Bezug auf Versorgungssicherheit und Netzstabilität bei der Elektrizität? Insbesondere nach dem Überfall Putins auf die Ukraine gab es Ängste vor Blackouts und Stromausfällen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit solcher Ausfälle mit etwas Abstand gesehen tatsächlich?

Komarnicki

Die Sorge um die Versorgungssicherheit war anfangs berechtigt, aber die Netzbetreiber haben sich gut vorbereitet, um die Zuverlässigkeit der Stromversorgung zu gewährleisten. Aber wie können wir diesen Mix aus Erneuerbaren, Kohlekraftwerken und Kernkraftwerken so organisieren, dass wir auf Dauer eine sichere Versorgung haben? Der Ausstieg aus der Kernenergie und die Stilllegung von Kohlekraftwerken in den nächsten 20 bis 30 Jahren werden entscheidend sein. Erst wenn diese Maßnahmen umgesetzt sind, wird sich die Frage der Versorgungssicherheit langfristig stellen.

Dell

Die Netzstabilität ist für mich das spannendste Thema. Die Netzstabilität in Deutschland ist bemerkenswert gut und sollte nicht vergessen werden, wenn darüber diskutiert wird. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, muss das Netz ausgebaut und reguliert werden. Wir müssen auch die Einschränkungen berücksichtigen, die mit dem Ziel der Energiewende einhergehen. Es muss in Netze investiert und angemessen reguliert werden, ohne dass der Sicherheitsaspekt vernachlässigt wird. Zwischen Sicherheit und Versorgungssicherheit besteht ein Spannungsfeld, das berücksichtigt werden muss.

Wir sind fast am Ende unserer Diskussion angelangt. Es besteht kein Zweifel daran, dass unser oberstes Ziel Netto-Null-Emissionen sind. Und damit diese Energiewende gelingt, müssen wir alle in viele Richtungen schauen. Und wir müssen alle gemeinsam handeln, um die Energiewende zu schaffen. Wer muss was tun, um dieses Ziel zu erreichen?

Dell

Ein großer Wunsch von mir ist es, die Industrie mit den Energieversorgern zusammenzubringen. Zudem ist mir das Thema Digitalisierung sehr wichtig. Die Energie sollte Teil der Digitalisierungsstrategie sein.

Komarnicki

Alle müssen ihren Beitrag leisten, um die Energiewende zu erreichen. Jeder kann das tun, was er tun kann, sei es in Haushalten, bei Anlagenbetreibern oder Netzbetreibern. Wenn jeder seine Aufgaben erfüllt, werden wir erfolgreich sein. Daher glaube ich, die Antwort ist einfach: Alle.

Zelinger

Alle müssen ihren Beitrag leisten, und es ist wichtig, dass wir aus den Erfahrungen des letzten Jahres lernen und Flexibilität entwickeln. Wir sollten auch strategische Partnerschaften aufbauen und Potenziale erkennen. Es ist nicht notwendig, alles selbst zu tun.

Lamp

Gemeinsam schaffen wir es, aber es ist entscheidend, dass wir daran glauben und darauf hinarbeiten. Die größte Gefahr besteht darin zu denken, andere würden es richten oder es sei unmöglich. Wenn die Gesellschaft vereinbart, dass wir es schaffen können und bereit sind, dafür zu arbeiten, können wir auch Lobbyismus entgegenwirken und unsere Ziele erreichen.

Bildergalerie

  • Matthias Lamp, Bereichsleiter bei GP Joule: „Es ist nicht notwendig, dass jeder die Lösungen von Grund auf neu entwickelt, aber die Initiative sollte von den Unternehmen selbst ausgehen.“

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  • Matthias Zelinger, Leiter des Kompetenzzentrum Klima und Energie beim VDMA: „Es ist nicht nötig, alles selbst zu tun.“

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  • Prof. P. Komarnicki, Leiter der Abteilung Energiesysteme und Infrastruktur am Fraunhofer IFF: „Auf den ersten Blick mögen sich Firmen vielleicht als Konkurrenten sehen, aber in Bezug auf Energieversorgung können sie voneinander profitieren.“

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  • Timo Dell, Bereichsleiter Vertrieb und neue Geschäftsfelder beim IT-Infrastrukturexperten rku.it: „Das one-size-fits-all-Modell, bei dem alle Verbraucher die gleiche Umlage und den gleichen Pries pro Kilowattstunde haben, wird nicht mehr funktionieren.“

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