Flexible MRK-Steuerung Teamarbeit bei schweren Lasten

Bild: B&R
05.10.2017

Dass Mensch-Roboter-Kollaboration auch in der Schwerlastrobotik nicht nur Theorie ist, zeigt eine Demozelle in der Montage einer Pkw-Heckklappe. Ein Techniker schraubt zusammen, ein Roboter ist für die schweren Geschütze zuständig. Über Open Robotics fügt sich die Steuerung nahtlos in das Automatisierungskonzept ein.

Während ein Comau-Roboter mit einer Reichweite von 2,70 m und einer maximalen Traglast von 220 kg die komplette Pkw-Heckklappe in eine Aufnahmevorrichtung befördert, wartet Sebastian Filk, Techniker bei Engrotec, hinter der roten LED-Leiste im Boden. Diese markiert den Sicherheitsbereich um seinen Arbeitsplatz. Würde er sie übertreten, käme der Roboter innerhalb von Millisekunden zum Stehen oder würde mit einer langsameren Geschwindigkeit weiterarbeiten, um Menschen nicht zu gefährden. Kaum ist der stählerne Kollege zum Stillstand gekommen, schlägt die Farbe in Grün um und Filk darf den freigegebenen Bereich betreten. Er befestigt zwei Scharniere, verlässt den Bereich wieder und beendet den Arbeitsgang mit einem Knopfdruck am nächsten Terminal. Der Roboter führt die vormontierte Heckklappe zur Karosse, wo die exakte Einbauposition mit einem Laserscanner ermittelt wird. Wenn die grüne LED-Leiste erscheint, sitzt das Werkstück in der richtigen Position. Filk tritt erneut in den Arbeitsbereich. Während er die Heckklappe an die Karosserie schraubt, sendet die Steuerung bereits die Qualitätsdaten an das ERP-System des Werkes und fordert das nächste Werkstück an. Diese Form der Teamarbeit wird in Zukunft standardmäßig in vielen Fabriken unter dem Begriff Industrie 4.0 anzutreffen sein.

Roboter werden zu Dienstleistern

Seit einiger Zeit machen Serviceroboter Schlagzeilen, die Menschen bei der Hausarbeit oder der Krankenpflege unterstützen. Direkte Mensch-Roboter-Kollaborationen eignen sich für die Montage und die Handhabung von Kleinteilen. Roboter sorgen für eine Entlastung der Beschäftigten, wenn zum Beispiel Über-Kopf-Arbeiten ausgeführt oder ergonomisch ungünstige Haltungen für ihre Tätigkeit eingenommen werden müssen. Anwendungen dieser Art zählen zur Leichtbaurobotik, bei der nur geringe Massen mit leistungs- und kraftreduzierten Antrieben bewegt und deshalb Menschen nicht gefährdet werden können.

Ganz anders verhält es sich im Bereich der Schwerlastrobotik. Bekannt sind zahlreiche Anwendungen im Automobilbau, wo hunderte Roboter in ihren sicheren Behausungen ganze Karossen zusammenschweißen. „Unter diesen Bedingungen lassen sich heute die meisten Anwendungsfälle automatisieren“, beschreibt Marc Burzlaff, Geschäftsführer des Technologiedienstleisters Engrotec-Solutions im hessischen Hünfeld, den technischen Stand. „Zukünftig kommt es darauf an, Menschen im Arbeitsprozess zu unterstützen und ihre Intelligenz mit den Vorteilen des Roboters zu kombinieren.“ So können wesentlich effektivere und flexiblere Produktionsabläufe entstehen, die den Werker entlasten. „Dieser Vorteil gewinnt besonders vor dem Hintergrund von Industrie 4.0 und einer damit verbundenen Individualisierung von Produkten zunehmend an Bedeutung“, sagt Burzlaff.

Der Mensch muss sicher bleiben

Teilen sich Mensch und Roboter einen gemeinsamen Arbeits- oder Bewegungsraum, ist ein physischer Kontakt zwischen beiden oft unvermeidlich oder auch gewollt. Hieraus ergibt sich grundsätzlich ein hohes Gefahrenpotenzial. Eine Verletzung des Menschen durch den Roboter muss sicher vermieden werden. Hierfür gelten die relevanten Normen DIN EN ISO 10218 und die neue ISO/TS 15066. Daraus lassen sich detaillierte Anforderungen für alle aufgabenabhängigen Sicherheitsabstände, die maximalen Verfahrgeschwindigkeiten und Arbeitsräume sowie deren Überwachung ableiten. Die Anforderungen an die eingesetzte Sicherheitstechnik sind dementsprechend hoch.

Mit der Umsetzung zahlreicher MRK-Projekte im Bereich Automotive weiß Burzlaff, dass die Reaktionszeit der kompletten Sicherheitskette über den Erfolg einer MRK-Applikation entscheiden kann. „Liegt die Reaktionszeit der Safety-Applikation unter 350 bis 400 ms, können die Sicherheitsabstände um bis zu 50 Prozent gegenüber dem aktuellen technischen Stand reduziert werden“, sagt der Geschäftsführer. Infolgedessen verringert sich der Bedarf an Produktionsfläche und die Arbeitsbelastung des Werkers nimmt durch kürzere Wege sowie eine verbesserte ergonomische Arbeitsplatzgestaltung deutlich ab.

Konventionelle MRK-Lösungen setzen auf Standardroboter mit eigener Steuerungstechnik, separater Zellensteuerung und Sicherheitstechnik. Die dezentrale Datenhaltung der zahlreichen Sicherheitsparameter sowie die Kommunikation der Systeme untereinander haben einen enormen Entwicklungsaufwand zur Folge. „Eine Reaktionszeit unter 500 ms ist mit dieser Komplexität nicht zu erreichen“, sagt Burzlaff.

Roboter baut Heckklappe ins Fahrzeug

2015 entwickelte Engrotec das AI Roboterführungssystem und ermöglichte damit den roboterunterstützten und toleranzoptimierten Verbau einer Heckklappe in ein Fahrzeug. Diese praxiserprobte und durch die Berufsgenossenschaft zugelassene Applikation wurde nun in einer neuen MRK-Demozelle weiterentwickelt. „Solche Szenarien in Zukunft ökonomisch für den Kunden umsetzen zu können, war ein Hauptanliegen unserer Arbeit“, sagt Burzlaff. „Dazu war es notwendig das Automatisierungskonzept als Ganzes neu zu betrachten.“

Nach intensiver Marktrecherche entschieden sich die Engrotec-Ingenieure für die Mechanik eines Comau-Roboters, der mit einer frei konfigurierbaren Steuerungstechnik von B&R ergänzt wird. Das Ergebnis dieser Kooperation von Comau und B&R heißt Open Robotics und ermöglicht die vollständige Integration eines solchen Roboters in eine Anlage. „Comau verzichtete auf eine eigene Robotersteuerung, wodurch die Komplexität der Automatisierungstechnik deutlich sank. Dazu kommt, dass die verwendete B&R-Technik für Steuerung, Antriebs- und Sicherheitstechnik und das Technologiepaket saferobotics nicht nur den Engineering-Aufwand entscheidend reduzierten, sondern auch die Reaktionszeit der Sicherheitstechnik“, sagt Tobias Daniel, Head of Sales and Marketing Robotics bei Comau. Steuerung, Antriebe und integrierte Sicherheitstechnik können frei ausgewählt und konfiguriert werden. Das Echtzeit-Ethernet Powerlink mit Open Safety und die Abwicklung des kompletten Engineering-Aufwands mit der B&R-Software Automation Studio nutzten die Engrotec-Konstrukteure.

In Echtzeit neu parametrieren

Das Technologiepaket saferobotics hat Funktionen, mit denen MRK-Applikationen unterschiedlicher Aufgabenstellungen realisiert werden können. Es können zum Beispiel mehrere Flansche, Gelenke, Monitoring- und Toolpoints und bis zu 20 beliebig im Raum platzierbare Quader oder Ebenen gleichzeitig sicher überwacht und auch in Echtzeit neu parametriert werden. Um die Parametrierung zu erleichtern, können diese Daten direkt aus einem Simulationstool übernommen werden. Zu saferobotics gehören auch sichere Antriebsfunktionen, die die Bewegung des Tool Center Point (TCP) des Roboters überwachen. Das sind zum Beispiel Funktionen für die sichere Position, Geschwindigkeit und Orientierung des Roboters oder die sichere Position des TCP. Ohne diese Funktionen wäre eine MRK-Anwendung schwer oder gar nicht zu realisieren.

Dieses Gesamtpaket reduziert die Reaktionszeit einer Safety-Applikation entscheidend. „Wir erreichen in dieser Applikation sichere 320 ms Reaktionszeit von der Erfassung einer Schutzraumverletzung mit einem Laserscanner bis zur sicheren Abschaltung der Antriebe“, freut sich Markus Sandhöfner, Geschäftsführer B&R Deutschland. Ergänzt wird diese Leistung durch das Know-how von Engrotec, das durch intelligente und datenbankgestützte Software- und Regelungsprinzipien viel Hardware und weitere Ausrüstung überflüssig macht.

Bildergalerie

  • Der Roboter fixiert das Werkstück und ist im sicheren Halt, während die Scharniere manuell befestigt werden.

    Der Roboter fixiert das Werkstück und ist im sicheren Halt, während die Scharniere manuell befestigt werden.

    Bild: B&R

  • Der Roboter führt die vormontierte Heckklappe zur Karosse, wo die exakte Einbauposition mit einem Laserscanner ermittelt wird.

    Der Roboter führt die vormontierte Heckklappe zur Karosse, wo die exakte Einbauposition mit einem Laserscanner ermittelt wird.

    Bild: B&R

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