Nutzungsreserven einer Anlage Haben Windenergieanlagen ungenutzte Potenziale?

Von links: Die drei Doktoranden Johannes Luthe, Andreas Schulze und Stephan Häusler vor der im Projekt DynAWind2 untersuchten Windenergieanlage des Rostocker Unternehmens W2E.

Bild: Julia Tetzke, Universität Rostock
30.11.2020

Aktuell sind Windenergieanlagen auf eine vorgesehene Betriebsdauer von 20 bis 25 Jahren ausgelegt. Gegenwärtig werden Annahmen darüber getroffen, welchen Windlasten die Anlagen über diesen Zeitraum voraussichtlich ausgesetzt sind. Nach Ablauf der genehmigten Betriebsdauer müssen die Anlagen, so schreibt der Gesetzgeber es vor, unabhängig von ihrer tatsächlichen Belastungsgeschichte aufwendig zurückgebaut und entsorgt werden. Diese könnten jedoch unter gewissen Voraussetzung weiter genutzt werden.

Insbesondere an windschwächeren Standorten ist davon auszugehen, dass Windenergieanlagen deutlich weniger belastet wurden als ursprünglich in der Auslegung angenommen und somit eine Reserve an Einsatzzeit verbleibt, die für den sicheren Weiterbetrieb der Anlagen genutzt werden kann. Genau hier setzt das Forschungsprojekt DynAWind2 an, in dem Experten verschiedener Fachrichtungen der Universität Rostock gemeinsam ein elektronisches Mess- und Auswertekonzept entwickeln, um die tatsächliche Belastungsgeschichte von Windenergieanlagen im Betrieb möglichst zuverlässig und kostengünstig zu erfassen. Basierend auf diesen Daten wird dann die verbleibende Einsatzzeit einer Windenergieanlage individuell abgeschätzt.

Vorhaben zur Entwicklung eines Lebensdauerzählers für WEA

An dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Vorhaben sind neben dem Berliner Blattentwickler WINDnovation und dem Rostocker Windenergieanlagenentwickler W2E Wind to Energy auch die beiden Lehrstühle Technische Mechanik/Dynamik und Strukturmechanik der Universität Rostock beteiligt. Die Gesamtprojektleitung hat Professor János Zierath inne, der seit 2011 als Berechnungsingenieur bei W2E tätig und darüber hinaus außerplanmäßiger Professor für Strukturdynamik der Universität Rostock ist. Das Vorhaben zur Entwicklung eines Lebensdauerzählers für Windenergieanlagen basiert auf dem Ziel eines ressourcenschonenden Umgangs mit den eingesetzten Konstruktionswerkstoffen.

„Auch wenn das Vorhaben auf kurzfristige Sicht für einen Windenergieanlagenentwickler betriebswirtschaftlich schädlich sein kann, so sieht W2E auch seine gesellschaftliche Verantwortung“, betont Zierath. Denn: Die Verantwortung für die Klima- und Energiewende liege nicht nur bei Politik und Bürgern, sondern auch bei den Unternehmen. Damit sieht W2E die Entwicklung eines Lebensdauerzählers auch als unternehmerische Chance und bietet nachhaltigen Windparkbetreibern ein zusätzliches Verkaufsargument ihrer Windenergieanlagen.

Informationen über Materialermüdung erforderlich

Professor Christoph Woernle, Inhaber des Lehrstuhls für Technische Mechanik/Dynamik an der Universität Rostock, verweist darauf, dass die Gewinnung grüner Energie aus dem Wind eine allgemein anerkannte Methode sei. „Und doch steckt sie noch in den Anfängen“, sagt er. „Wie die Anlagen aufgebaut werden, ist allgemein bekannt. Aber was mit ihnen passiert, wenn sie das Ende ihrer vorgesehenen Betriebsdauer erreicht haben, dafür gibt es noch kein Patentrezept.“ Für einen sicheren Weiterbetrieb von Windenergieanlagen sind Informationen über deren Materialermüdung erforderlich. Um diese zu beurteilen, muss die Verformung der wichtigsten Tragstrukturen wie Turm und Rotorblätter über die gesamte Betriebsdauer messtechnisch erfasst werden. Um diese Messungen robust und kostengünstig durchführen zu können, entwickeln die am Projekt beteiligten Doktoranden von Professor Woernle, Andreas Schulze und Johannes Luthe, ein neuartiges, modellbasiertes Konzept, das bereits Experten überzeugt hat: Die Forschungsarbeiten wurden von der Ingenieurkammer Mecklenburg-Vorpommern mit einem Anerkennungspreis gewürdigt.

Nutzungsreserven der Anlage

Doch für einen robusten Lebensdauerschätzer reichen diese Messungen allein nicht aus. Entscheidend ist, die gemessene Verformung mit dem jeweiligen Materialverhalten in Verbindung zu bringen. Insbesondere bei den im Rotorblatt verwendeten Verbundwerkstoffen ist der Forschungsbedarf noch hoch. Dieser Thematik widmen sich die Doktoranden Richard Fink und Stephan Häusler am Lehrstuhl für Strukturmechanik, der von Professorin Manuela Sander geleitet wird. „Bei uns steht die Materialermüdung im Fokus des Forschungsprojekts“, sagt sie. Um bewerten zu können, wie stark sich die gemessenen Verformungen auf das jeweilige Konstruktionsmaterial auswirkt, müssen hunderte Versuche im Labor des Lehrstuhls durchgeführt werden. Erst dann können Rückschlüsse auf die Nutzungsreserven der Anlage gezogen werden. Am Ende werden alle Erkenntnisse in einem einfach zu handhabenden Simulationsmodell abgebildet, damit die Berechnung der Lebensdauerreserve online im Betrieb erfolgen kann.

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