Die Vorstellungen vom Digitalen Zwilling gehen weit auseinander. Viele verstehen darunter hochintelligente dynamische Abbildungen der realen Welt, die es ihnen ermöglichen, komplexe Parameterkonstellationen zu ermitteln und zu beherrschen. Andere bezeichnen bereits ein 3D-Modell von Produkten als Digitalen Zwilling. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Um das genauer zu klären, wird im Folgenden die Nutzung des „Digitalen Zwillings“ anhand von Beispielen beschrieben. Welche Produkt-Abbild-Ebenen haben sich auf Herstellerseite bereits heute etabliert? Welchen Nutzen kann der Anwender ziehen? Und: Wie lassen sich Abbilder von physikalischen Objekten so gestalten, dass sie auch künftig Nutzen bringen?
Zunächst gilt es zu akzeptieren, dass Digitale Zwillinge unterschiedliche Abstraktionsgrade haben können. Für ein tieferes Verständnis mag es hilfreich sein, die Rolle der IT- und Datenbasierten Steuerungstechnik im Maschinenbau in den letzten Jahrzehnten zu betrachten: Der Anteil der mechanischen Konstruktion lag in den 1970er Jahren noch bei 85 Prozent – der Anteil von Elektrokonstruktion und Software-Engineering betrug da insgesamt erst 15 Prozent vom gesamten Engineering-Aufwand. Um die Jahrtausendwende lag das Verhältnis zwischen beiden Seiten bei 70 Prozent zu 30 Prozent. Erst nach 2000 ist das Verhältnis „gekippt”. Heute ist der Aufwand für die „Mechanik“ nur noch 30 Prozent – die große Mehrheit der Entwicklungen sind das Ergebnis von Elektrokonstruktion (25 Prozent), Software- (30 Prozent) und System-Engineering (15 Prozent).
Der zunehmende Einsatz Digitaler Zwillinge ist Teil der Entwicklung. Um die datenbasierten Modelle effektiv und angemessen einzusetzen, muss man die Interessen der unterschiedlichen Stakeholder betrachten: Welche Kosten- oder Ressourcen-Effekte oder gar disruptive Business-Veränderungen werden angestrebt? Dabei gilt es, den gesamten Lebenszyklus einer Maschine oder Anlage in den Blick zu nehmen. Bei OEM und Endkunden von Produktionsanlagen sind viele betriebliche Funktionen an der Leistungserbringung beteiligt: Forschung & Entwicklung, Konstruktion, Projektierung & Vertrieb, Prozess-Engineering, Fertigung & Montage, Dokumentation, Service & After-Sales Dienste, Supply Chain & Logistik, Marketingkommunikation – die Effektivität all dieser „Player“ kann durch die Nutzung digitaler Modelle positiv beeinflusst werden.
Passendes Abbild gefunden
Die Vielzahl der Interessen und Technologien lässt erahnen, wie komplex die Zusammenhänge sind, die bei der Entwicklung und im täglichen Betrieb von Fertigungsanlagen entstehen. „Digitale Zwillinge“ sind auf unterschiedlichen Ebenen das Mittel der Wahl zur Komplexitätsreduktion. Durch die datenbasierte Angabe, Zuordnung und standardisierte Strukturierung von Eigenschaften, Merkmalen und Parametern ermöglichen sie „dynamische“ Beschreibungen und Abbildungen „echter“ Komponenten, Aggregate und Module. Dabei eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten, zugleich auch den Produkt-Lebenszyklus mit Entstehung, Nutzung, Betrieb, Service und Demontage abzubilden. Mehr noch: Digitale Zwillinge ermöglichen Simulationen, die das Zusammenspiel von Funktionen in Maschinen und Anlagen modellieren, um sie zu verifizieren, zu beschreiben und/oder vorherzusagen.
Im Folgenden soll das Potenzial Digitaler Zwillinge aus der Sicht eines Herstellers von Verbindungstechnik konkret beschrieben werden, indem es an Objekten und Prozessen aufgezeigt wird, die real und typisch für Harting Lösungen sind.
Automatische Schaltschrankfertigung
Der Nutzen Digitaler Zwillinge lässt sich am Schaltschrankbau verdeutlichen. In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt der Entwicklung beim Zeichnen von Stromlaufplänen. Dieser Plan, eine Stückliste und eventuell noch eine Aufbauzeichnung galten als hinreichende Grundlage für die Fertigung eines Schaltschranks. Dabei waren die Prozesse fehleranfällig, denn der Schaltschrank war oft nicht eindeutig beschrieben. Zudem erforderte die Realisierung eine hohe Qualifikation der Monteure, da viele Entscheidungen und Auslegungen in die Produktion verlagert wurden. Dank moderner ECAD-Software ist es heute möglich, das System als digitales Abbild schon im Vorfeld komplett zu modellieren. Damit wird der Schaltschrankbau deutlich effizienter und Fehler werden vermieden. Der Detailreichtum der Beschreibungen erlaubt einen hohen Automatisierungsgrad und immense Zeiteinsparungen im gesamten Prozess.
Fakt ist: Knapp die Hälfte des Gesamtaufwands in der Automatisierung fließt in die Schaltschrank-Verdrahtung. Mithilfe von Digitalen Zwillingen aber lässt sich diese Verdrahtung fast vollständig automatisieren. Maschinen zur Ablängung, Konfektionierung und Beschriftung werden dafür mit Daten versorgt und bereiten selbständig beispielsweise Litzen vor. Ein Verdrahtungsroboter schließt danach die Arbeiten ab. „Der Digitale Zwilling mit einer anschließenden Vorkonfektionierung kann helfen, die Bestückungszeit im Schaltschrankbau um bis zu 90 Prozent zu reduzieren“, lautet das Fazit einer Studie der Universität Stuttgart. Ähnliche Schritte sind auch in der mechanischen Bearbeitung möglich. Der Digitale Zwilling bildet hier die Basis für native CNC-Bearbeitungsdaten, die die weitere Automatisierung steuern. Vielfach wird gegen derart tiefgreifende Maßnahmen eingewandt, sie seien nur bei hohen Stückzahlen wirtschaftlich sinnvoll; der Aufwand für die Modellierung eines virtuellen Schaltschranks mache die Einsparungen bei der Verdrahtung wieder zunichte. Doch das stimmt nicht, zumindest, solange der Anwender die erarbeiteten Modelle durchgängig – zum Beispiel für den Aufbau einer vollständigen Artikeldatenbank – nutzt. Denn auf einer solchen Grundlage können Konstruktionsabteilungen deutlich effizienter arbeiten.
Details „im Gespräch“
Die Suche nach Informationen verkürzt sich auf ein Minimum. Zeitraubende Details wie Mindestabstände, Verkabelungsräume und Befüllungsgrade von Kabelkanälen werden von den Regelwerken der Digitalen Zwillinge automatisch eingehalten. Die Datenmodelle für Litzenlängen und CNC-Bearbeitung werden allein durch die Interaktion der Komponenten untereinander im System erzeugt. Die Bauteile selbst sind „intelligent“, sie wissen, was sie können, benötigen und wie sie miteinander verknüpft werden. Der Elektro-Konstrukteur kann sich unterdessen auf die wertschöpfenden Tätigkeiten fokussieren: die funktionale Entwicklung.
Eine besondere Rolle kommt in diesem System den Herstellern von Schaltschrank-Komponenten zu. Denn nur, wenn sie ihre Teile mit vollständigen Digitalen Zwillingen versehen, die ohne große Adaption genutzt werden können, funktioniert das Konstrukt. Harting unterstützt bereits seit Jahren die virtuelle Modellierung seiner Komponenten, indem es Daten für verschiedene ECAD-Systeme wie Eplan oder Zuken E3 zur Verfügung stellt, wobei die Qualität für die Anwendung in den jeweiligen Systemen geprüft ist.
Gesucht: Einheitliche Standards
Die Formate für Digitale Zwillinge sind allerdings in der Regel proprietär, was eine besondere Herausforderung darstellt. Denn die Komponenten-Hersteller müssen erheblichen Aufwand betreiben, um die vielen in der Industrie verwendeten Formate bereitzuhalten. Der Anwendungsbereich beschränkt sich meist auf ein System, zum Beispiel Schaltschrank, und lässt sich nicht über Systemgrenzen transferieren. Ein einheitlicher Datenstandard für Digitale Zwillinge wäre der Schlüssel für eine weitere Verbreitung dieses überaus effizienten Ansatzes. Harting treibt die offene Standardisierung des Digitalen Zwillings voran. Unter dem Dach der Industrial Digital Twin Association (IDTA) und zusammen mit Microsoft, Siemens und SAP hat die Harting Technologiegruppe einen „Showcase“ entwickelt, der zeigt, wie die Standardisierung von Daten für industrielle Anwendungen genutzt werden kann.