Elektronen können sich ganz unterschiedlich verhalten, je nachdem wie viel Energie sie haben. Ob man ein Elektron mit hoher oder mit niedriger Energie in einen Festkörper schießt, entscheidet darüber, welche Effekte dadurch ausgelöst werden können.
Elektronen mit wenig Energie können etwa für die Entstehung von Krebs verantwortlich sein, umgekehrt kann man sie auch verwenden, um Tumore zu zerstören. Auch in der Technik sind sie wichtig, etwa für die Herstellung feiner Strukturen in der Mikroelektronik.
Doch gerade diese langsamen Elektronen sind extrem schwer zu messen. Das Wissen über ihr Verhalten in festen Materialien ist begrenzt, oft muss man mit Versuch und Irrtum arbeiten. An der TU Wien gelang es nun aber, wertvolle neue Information über das Verhalten dieser Elektronen zu ermitteln: Man verwendet schnelle Elektronen, um mit ihnen direkt im Material langsame Elektronen zu erzeugen. So entschlüsselt man Details, die bisher experimentell nicht zugänglich waren.
Zwei Sorten Elektronen gleichzeitig
„Uns interessiert, was die langsamen Elektronen im Inneren eines Materials machen – etwa im Inneren eines Kristalls, oder auch im Inneren einer lebenden Zelle“, sagt Prof. Wolfgang Werner vom Institut für Angewandte Physik der TU Wien. „Um das herauszufinden, müsste man eigentlich ein Mini-Labor direkt im Material bauen, um direkt vor Ort messen zu können. Aber das ist natürlich nicht möglich.“
Messen kann man nur Elektronen, die aus dem Material herauskommen – aber damit weiß man noch nicht, an welcher Stelle des Materials sie sich gelöst haben und was mit ihnen seither geschehen ist. Das Team der TU Wien löste dieses Problem mit Hilfe von schnellen Elektronen, die ins Material eindringen und dort verschiedene Prozesse anregen. Sie können zum Beispiel das Gleichgewicht zwischen positiven und negativen elektrischen Ladungen des Materials stören, das kann dann in weiterer Folge dazu führen, dass sich ein anderes Elektron von seinem Platz löst, sich mit relativ niedriger Geschwindigkeit weiterbewegt und in manchen Fällen aus dem Material austritt.
Der entscheidende Schritt ist nun, diese verschiedenen Elektronen gleichzeitig zu messen: „Einerseits schießen wir ein Elektron in das Material hinein und messen seine Energie, wenn es wieder austritt. Andererseits messen wir gleichzeitig auch noch, welche langsamen Elektronen aus dem Material herauskommen.“ Und durch die Kombination dieser Daten kann man Information gewinnen, die bisher nicht zugänglich war.
Keine wilde Kaskade, sondern eine Serie von Zusammenstößen
Die Menge an Energie, die das schnelle Elektron auf seiner Reise durch das Material verloren hat, gibt Auskunft darüber, wie tief es ins Material eingedrungen ist. Das wiederum liefert Information darüber, in welcher Tiefe die langsameren Elektronen von ihrem Platz gelöst worden sind.
Aus diesen Daten kann man nun berechnen, in welchem Ausmaß und auf welche Weise die langsamen Elektronen im Material ihre Energie abgeben. Numerische Theorien dazu lassen sich anhand der Daten erstmals zuverlässig validieren.
Dabei erlebte man eine Überraschung: Bisher dachte man, das Herauslösen von Elektronen im Material würde kaskadenartig ablaufen: Ein schnelles Elektron tritt ins Material ein, trifft dort auf ein anderes, das damit von seinem Platz gerissen wird, sodass nun zwei Elektronen weiterfliegen.
Diese zwei Elektronen würden nun zwei weitere Elektronen von ihrem Platz lösen, und immer so weiter. Die neuen Daten zeigen, dass das nicht stimmt: Stattdessen macht das schnelle Elektron eine Serie von Zusammenstößen durch, behält dabei aber immer einen Großteil seiner Energie und nur ein einziges vergleichsweise langsames Elektron wird bei jeder dieser Wechselwirkungen von seinem Platz gelöst.
„Unsere neue Methode bietet Chancen in ganz unterschiedlichen Bereichen“, sagt Wolfgang Werner. „Wir können damit nun endlich untersuchen, wie die Elektronen in ihrer Wechselwirkung mit dem Material Energie abgeben. Genau diese Energie entscheidet etwa bei der Krebstherapie, ob Tumorzellen zerstört werden können, oder bei der Elektronenstrahllithographie, ob es gelingt, feinste Details einer Halbleiterstruktur korrekt zu formen.“