Die Durchführung einer Risikobeurteilung für Maschinen ist laut EG-Maschinenrichtlinie seit 1995 gesetzlich gefordert. Seit 2009 sind die Anforderungen weiter gestiegen. Unterschätzen viele Maschinenbauer aber nach wie vor die Wichtigkeit der Risikobeurteilung?
Erbs:
Unterschätzen würde ich nicht sagen. Die Frage ist, wie ernst es genommen wird. Die Wichtigkeit der Risikobeurteilung ist den Maschinenbauern schon bewusst, doch aufgrund der Aufwände, die viele nicht einschätzen können, wird diese oft nicht in letzter Konsequenz umgesetzt. Aber wenn wir Maschinen konstruieren, müssen wir einfach dafür sorgen, dass diese sicher sind. Diese Anforderung leitet sich in Deutschland aus dem Produktsicherheitsgesetz ab. Da steht ganz klar drin: Es dürfen nur sichere Maschinen in Verkehr gebracht werden. Dazu ist die Einhaltung der Maschinenrichtlinie essenziell.
Wer muss sich primär um eine Risikobeurteilung kümmern: Der Maschinenbauer oder der Anlagenbetreiber?
Abbas:
Primär ist der Maschinenbauer in der Pflicht die Risikobeurteilung durchzuführen, weil er die Verantwortung hat, ein sicheres Produkt in Verkehr zu bringen. Der Anlagenbetreiber muss dafür sorgen, dass er seinen Arbeitnehmern sichere Arbeitsmittel zur Verfügung stellt. Dazu muss er eine sogenannte Gefährdungsbeurteilung auf Basis der Maschinendokumentation durchführen. Die Qualität der Gefährdungsbeurteilung hängt somit entscheidend von der Risikobeurteilung des Herstellers ab. Durchzuführen hat sie aber in dem Fall der Maschinenbauer.
Und wann ist der Betreiber der Maschine in der Verantwortung?
Erbs:
Das hängt von der Situation ab. Erstmal ist es grundsätzlich so, wenn Maschinen in Verkehr gebracht werden, müssen sie eine CE-Kennzeichnung für die Einhaltung der Maschinenrichtlinie haben – wofür der Maschinenbauer verantwortlich ist. Danach trägt aber der Betreiber einer Maschine die vollumfängliche Verantwortung für den sicheren Betrieb. Das heißt, alles, was er mit dieser Maschine macht, fällt in seinen Bereich. Führt der Betreiber an der Maschine eine wesentliche Änderung durch, wird er dadurch zum Hersteller einer neuen Maschine, mit allen damit verbundenen Herstellerpflichten.
Wo liegen die Tücken bei einer Risikobeurteilung und deren Dokumentation?
Erbs:
Der größte und oft eintretende Fallstrick bei der Risikobeurteilung ist ein unstrukturierter und zu spät gestarteter Prozess. Einfach mal „hier und da“ schauen hilft nicht. Deswegen ist es hochgradig sinnvoll, die geltenden Normen anzuwenden. Hier ist die DIN EN ISO 12100 zu nennen, die das Verfahren der Risikobeurteilung ausführlich beschreibt. Die Anwendung der einschlägigen Normen ist der Grundstein einer angemessenen Risikobeurteilung. Durch unsere Qualifikation und Erfahrung können wir die komplexen Anforderungen aus den Normen effizient für unsere Kunden umsetzen.
Die meisten Unfälle passieren während Wartungs- und Reparaturarbeiten. Und hier sind Instandhalter oft sehr kreativ, um lästige Sicherheitsfunktionen zu überbrücken. Da hilft doch auch keine Risikobeurteilung?
Abbas:
Doch! Denn es ist ein essenzieller Bestandteil der Risikobeurteilung, die Maschine von vorneherein so auszulegen, dass der Instandhalter oder Bediener gar keine Veranlassung hat, Sicherheitsfunktionen beim Arbeiten zu umgehen.
Sollte also erst nach der Gefahrenermittlung mit der Konstruktion einer Maschine begonnen werden?
Erbs:
Ja, aber wir sprechen hier von einem konstruktionsbegleitenden Prozess. Schon zum Projektstart sind üblicherweise Informationen für den Beginn der Risikobeurteilung vorhanden. Im Verlauf der Maschinenentwicklung und -herstellung ändern sich oft die Bedingungen und Lösungswege. Diese Veränderungen müssen wiederum in die Risikobeurteilung einfließen.
Aber erleben Sie es trotzdem in der Praxis, dass Maschinenbauer erst am Ende der Herstellung die Risikobeurteilung anfertigen wollen?
Abbas:
Das ist leider häufiger der Fall. In der Regel lassen sich konstruktive und sicherheitstechnische Maßnahmen im Nachgang aber nur schwierig bis gar nicht realisieren. Dann kommen Maschinenbauer oft in Situationen, wo die nachträglich hinzugefügten Sicherheitsfunktionen die Bedienung erschweren und Manipulationen begünstigen. Deswegen ist es so wichtig, den kompletten Herstellungsprozess mit einer Risikobeurteilung zu begleiten.
Eine Risikobeurteilung muss rechtssicher sein. Kann das ein Maschinenbauer überhaupt selbst stemmen?
Abbas:
Er muss die Risikobeurteilung natürlich nach bestem Wissen und Gewissen erstellen und die harmonisierten Normen anwenden. Wenn die Normen richtig und vollständig angewendet werden, kann der Maschinenbauer vermuten, die rechtlichen Anforderungen zu erfüllen.
Kann der Maschinenbauer mit der Hilfe von Phoenix Contact seine Risikobeurteilung effizient umsetzen?
Erbs:
Ja, das kann er! Durch unser langjähriges Know-how und unsere Dokumenten, Vorlagen sowie Programme halten wir alle normativen Anforderungen der für die Maschine relevanten Richtlinien ein. Gerade wenn Maschinenbauer nicht genügend Ressourcen oder Know-how haben, dann stehen wir als Phoenix Contact für eine effiziente Risikobeurteilung zur Verfügung.
Sie führen auch die Beratung zur Risikobeurteilung durch. Was verbirgt sich dahinter?
Erbs:
Wir erläutern dem Kunden an seiner Maschine den Prozess der Risikobeurteilung. Damit geben wir dem Maschinenbauer die Möglichkeit, die Risikobeurteilung zu verstehen und sie beim nächsten Mal selbst durchzuführen. Auf der anderen Seite sind wir selbstverständlich in der Lage, Kunden schon beim Engineering der Maschine zu begleiten und die Risikobeurteilung in Eigenregie zu erstellen.
Die Maschinenrichtlinie fordert eine umfangreiche und lückenlose technische Dokumentation. Das klingt sehr nach „Bürokratismus“!
Erbs:
Nein, das sehen wir nicht so! Die Maschinenrichtlinie fordert im Prinzip nur einen Nachweis, dass alle Teile einer Maschine geplant entstanden sind. Für diesen Nachweis muss dokumentiert werden, welche Maßnahmen warum ausgewählt wurden. Nur so lässt sich begründet darstellen, dass die notwendigen Anforderungen an die Maschine eingehalten werden. Bei einer nachträglich angefertigten Risikobeurteilung ergibt sich häufig das Problem, dass die getroffenen Maßnahmen nicht ausreichen oder nicht zu den identifizierten Gefährdungen passen. Das erforderliche Sicherheitsniveau kann dann in der Regel nur mit einem sehr hohen Aufwand oder in manchen Fällen gar nicht mehr erreicht werden. Grundsätzlich ist es so, dass eine nachträgliche Risikobeurteilung keinen Mehrwert für den Maschinenhersteller bietet. In diesem Fall entsteht natürlich schnell der Eindruck, dass die Risikobeurteilung blanker Bürokratismus ist. Wird die Risikobeurteilung aber über sämtliche Phasen hinweg prozessbegleitend durchgeführt, so erhält der Maschinenbauer ein Arbeitsdokument, das ihm vieles erleichtert.
Maschinen sind durch die Digitalisierung immer vernetzter. Schließt Ihre Risikobeurteilung auch Gefahren durch Cyberangriffe ein?
Abbas:
Ja, denn die Themen Safety und Security lassen sich nicht mehr trennen. Wenn ein Steuerungskonzept der Maschine eine Kommunikation mit der IT- oder Cloud-Ebene aufweist, dann hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Sicherheit der Maschine. Wir setzen für unsere Kunden also nicht nur Maschinensicherheit um, sondern betrachten auch gleichermaßen relevante Themen wie zum Beispiel EMV und Cyber-Security.
Wie unabhängig agieren Sie beim Einsatz von Sicherheitslösungen? Schließlich haben Sie als Phoenix Contact ja selbst ein breites Produktportfolio im Angebot!
Erbs:
Hier können wir mit Fug und Recht behaupten, wenn der Anwender Phoenix Contact für eine Risikobeurteilung konsultiert, begibt er sich nicht in eine Abhängigkeit, sodass lediglich unternehmenseigene Komponenten und Systeme in die Lösung einfließen. Wir agieren mit unserem Competence Center Services absolut neutral und nutzen genauso Safety-Lösungen anderer Hersteller – ganz nach Wunsch des Kunden. Unser Bestreben ist, die Maschinensicherheit bestmöglich umzusetzen, und zwar genau mit den Produkten, die sich für den jeweiligen Fall am besten eignen. Natürlich haben wir für den Kunden den großen Vorteil, dass wir ganzheitlich handeln und ihm Lösungen aus einer Hand bieten können - also Risikobeurteilung und Produkte für die Realisierung. Und der ganzheitliche Ansatz schließt die eben erwähnte Cyber-Security ebenso mit ein wie komplette Automatisierungslösungen.
Sehen Sie derzeit generelle Trends im Bereich der Maschinensicherheit?
Abbas:
Maschinenbauer verwenden immer häufiger ähnliche Module und wünschen sich so auch Synergieeffekte bei der Risikobeurteilung und der technischen Dokumentation. Und hier unterstützen wir unsere Kunden, ihren Prozess in gewissen Grenzen zu automatisieren.