Fokusthema Industrie 4.0 Wann entflammt die Revolution?

Emerson Endress+Hauser (Deutschland) GmbH+Co.KG Festo Vertrieb GmbH & Co. KG Pepperl+Fuchs SE

Bild: iStock, sirastock
09.04.2018

Industrie 4.0 schien lange eine Utopie zu sein. Mittlerweile schreitet der Wandel jedoch immer rascher voran – obwohl noch einige Hindernisse zu überwinden sind. Dieser Wandel bedeutet einschneidende Änderungen nicht nur für die Produktion, sondern auch für die Geschäftsmodelle.

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Der Prozess begann schleichend, beschleunigte – und dann war es blitzschnell Normalität: Wir sind vernetzt. Jederzeit. Mit Menschen, mit Dienstleistern, mit beliebigen Informationen. Global und vor allem: privat. Am Arbeitsplatz allerdings müssen wir oft Kollegen anrufen, weil wir auf Informationen keinen direkten Zugriff haben, oder uns auf den Weg machen, um ein Display abzulesen. Sieben Jahre ist es her, dass der Begriff Industrie 4.0 geprägt wurde.

Die Vision: Die Vernetzung aller Schritte vom Rohstoffeingang über die Produktion bis zur Distribution und die Verknüpfung aller erforderlichen Informationen bei Zulieferer, Hersteller und Kunden. Maschinen sollen nicht nur mit Menschen, sondern auch miteinander in Echtzeit kommunizieren, sich selbst organisieren und steuern können (Internet of Things). Das Ziel: erhöhte Produktivität, mehr Flexibilität, effizientere Ressourcennutzung, Kostenreduktion – und ein höheres Tempo bei Innovationen.

Die Revolution verspätet sich

Im Produktionsbereich sind auf dem Weg dorthin einige Hindernisse zu überwinden: Anlagen bestehen aus Bauteilen verschiedener Herkunft, die nach unterschiedlichen Standards arbeiten. Daten sind verstreut, oft inkompatibel und nicht immer digital. Prozesse sind sorgfältig justiert – kann man riskieren, dass Veränderungen Qualitätsprobleme, Produktionsunterbrechungen oder gar Unfälle verursachen? Zudem sind Anlagen teuer und müssen sich amortisieren.

Eine vollständig digitalisierte Fabrik neu zu konzipieren können nur wenige Unternehmen umsetzen. Vor partiellen Veränderungen schrecken manche zurück, weil sie Fehlinvestition fürchten. Andreas Koch, Vertriebsdirektor bei Bluhm Systeme, vergleicht eine Umstellung im laufenden Betrieb mit einer „Operation am offenen Herzen des Unternehmens“.

Dennoch habe die Prozessindustrie die Chancen der Digitalisierung erkannt. Die meisten wissen, dass sie das Thema anpacken müssen – doch der Weg ist nicht unbedingt klar. Oft fehlt es „an konkreten Zielen und Visionen, was erreicht werden soll“, sagt etwa Ulf Kottig, Senior Marketing Manager, Trebing & Himstedt Prozessautomation.

Laut einer Deloitte-Studie im Auftrag des VCI haben in der Chemie bislang nur die Branchenführer Digitalstrategien aufgesetzt. 70 Prozent der Befragten haben noch keine Strategie – allerdings erwartet die Mehrheit Veränderungen, rund 50 Prozent planen Investitionen. Gunther Kegel, CEO bei Pepperl+Fuchs, warnte kürzlich, dass Unternehmen, die die digitale Transformation auf die lange Bank schieben, ernsthafte Wettbewerbsnachteile drohten.

Wie weit ist die Prozessindustrie?

„Was die Prozessindustrie angeht, ist der Weg noch lang“, heißt es in einer Frauenhofer-Studie. Besonders bei kleineren und mittelständischen Unternehmen wird der Digitalisierungsprozess noch eine Weile dauern, meint Andreas Koch von Bluhm. „In prozesstechnischen Anlagen sind analoge Technologien noch weit verbreitet“, erklärt Benedikt Rauscher, Leiter Globale IoT / I4.0 Projekte bei Pepperl+Fuchs. „Komplett digitale Konzepte“ hätten sich hier noch nicht durchgesetzt. In der Fabrikautomation sei man „deutlich weiter“. Ein Vorteil sei dort die geringere Vielfalt der eingesetzten Komponenten und die größere Verbreitung von Standards. Ulf Kottig von Trebing & Himstedt verweist darauf, dass die „gut definierten Prozesse“ eine gute Basis darstellen. Bis sich das Potenzial aller Betriebs- und Anlagedaten vollständig ausschöpfen lässt, wird noch einige Zeit vergehen.

Allerdings lässt sich parallel zu einer bestehenden Anlage eine Informationsstruktur aufbauen, etwa über den Einbau zusätzlicher kommunikationsfähiger Sensoren oder Vernetzung mittels RFID. Bar- und QR-Codes erlauben das automatische Auslesen von Informationen. Pepperl+Fuchs hat auf Basis von HART und WirelessHART eine Nachrüstlösung erarbeitet, die parallel zur bestehenden Verdrahtung Daten von den Feldgeräten in der Cloud bereitstellt. Bluhm bietet eine Software, die Kennzeichnungssysteme und Peripheriegeräte vernetzt. Auch Fremdsysteme, zusätzliche Sensoren und Kameras sollen sich einbinden lassen. Grundsätzlich ermöglicht die Cloud, verstreute Daten zusammenzuführen und auszuwerten. Ulf Kottig nennt als Beispiel SAP Digital Manufacturing Insights, das unterschiedliche Datenquellen als Dashboards aufbereitet.

Arbeitet ein Modul fehlerhaft oder fällt es aus, ist der Schaden gerade in der Prozessindustrie schnell groß. Optimal wäre es, Geräte zu reparieren oder auszutauschen, bevor sie Probleme verursachen – und zu einem Zeitpunkt, der die Produktion möglichst wenig beeinträchtigt. Bei vorausschauender Wartung werden intakte Module nicht ersetzt, nur weil sie nach Erfahrungswerten an der Reihe sind. In dieser Predictive Maintenance sehen allerdings nach einer aktuellen Umfrage nur sechs Prozent der befragten Unternehmen einen großen Nutzen – doch bisher gibt es auch nur wenig praktische Erfahrungen mit einer Industrie-4.0-Umsetzung dieses Konzepts. Zwar werden bereits heute viele Daten automatisch erfasst – doch dies geschieht meist in proprietären Systemen. Um die Kompatibilitätsgrenzen zu überwinden, ist einiges in Bewegung. OPC UA ist laut Ulf Kottig mittlerweile „als Quasi-Standard sehr weit verbreitet und akzeptiert“.

Neue Maschinen sollten multiprotokollfähig sein, um in unterschiedlichen Umgebungen einsetzbar zu sein. Die Namur Open Architecture soll es erlauben, Anlagen parallel zur bestehenden Struktur um neue Komponenten zu erweitern. Führt man alle Informationen über eine Maschine oder Anlage in einem virtuellen Modell zusammen, spricht man von einem digitalen Zwilling. Dieses Abbild umfasst detaillierte Daten zu Bauteilen und möglichen Prozessen, historische Werte, aktuelle Sensordaten und Produktspezifikationen – idealerweise vom Betreiber, allen Herstellern und Dienstleistern. Damit lässt sich die Produktion überwachen, optimieren, steuern, neue Abläufe prüfen und Probleme beheben. Zudem soll der digitale Zwilling die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten verbessern und neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Er wird „ein Herzstück der digitalen Transformation“, sagt etwa Ulf Kottig.

Gerade die zunehmende Vernetzung weckt Vorbehalte: Je stärker die Vernetzung, desto größer die Folgen von Angriffen oder Fehlern. Cyberattacken haben bereits die Pharmaindustrie getroffen, und auch ein Schokoladenproduzent musste wegen eines Trojaners im Steuerungssystem die Herstellung unterbrechen. Zudem ist gerade im Mittelstand die Sorge groß, dass Geschäftsgeheimnisse gefährdet sind. Deshalb zögern viele Unternehmen, Prozessdaten zur Entwicklung von Cloud-Anwendungen herauszugeben. Es muss sichergestellt werden, dass nur berechtigte Personen und Systeme Zugriff auf die Daten bekommen. Umfassende Sicherheitskonzepte sind unverzichtbar, um Vertrauen zu schaffen. Forschungseinrichtungen wie das Fraunhofer-Institut arbeiten bereits an neuen Lösungen und Abwehrstrategien.

Kooperation ist das Schlüsselwort

Industrie 4.0 bedeutet Kooperation. Das gilt nicht nur für Maschinen und alle Abteilungen eines Unternehmens. Das Verhältnis zwischen Produzenten, Anlagenbauern, Geräteherstellern, Zulieferern, Distributoren und Kunden erhält eine neue Qualität – sie alle profitieren vom Austausch und der gemeinsamen Verarbeitung von Informationen. Das führt zu völlig neuen Konstellationen: So haben Pepperl+Fuchs, BASF, SAP, Samson und Endress+Hauser eine gemeinsame Plattform für die Prozessindustrie geschaffen. Ein SAP-Netzwerk soll eine sichere Möglichkeit eröffnen, Daten aus unterschiedlichen Quellen zentral in der Cloud zusammenzuführen und nach den Bedürfnissen der Nutzer auszuwerten. Komponentenhersteller sollen nun ihre Assets als digitale Zwillinge über das Portal bereitstellen.

Die Vernetzung verändert Geschäftsmodelle – und neue entstehen. Wer früh auf den Zug aufspringt, kann eigene Entwicklungen und Erfahrungen gewinnbringend weitergeben. Endress+Hauser etwa hat seine Industrie-4.0-Aktivitäten in einer Tochterfirma gebündelt, in der Spezialisten ausschließlich an Produkten, Lösungen und Dienstleistungen für Industrie 4.0 arbeiten. Festo hat eine Fabrik auf dem aktuellen Stand der Technik errichtet, in der das Unternehmen aus Pilotprojekten Wissen generieren will. Und auf der Hannover Messe stellen die Connectivity-Experten von Weidmüller gemeinsam mit dem Kompressorenhersteller Boge eine Analyse-Software zur Auswertung von Betriebsdaten vor. Die Software soll kritische Abweichungen frühzeitig erkennen und dem Elektronikunternehmen ein zusätzliches Geschäftsmodell erschließen.

Industrie 4.0 ist nicht nur eine technische Herausforderung: In Zukunft wird wohl nicht mehr die Maschine, sondern die Verfügbarkeit einer bestimmten Leistung angeboten werden, etwa Druckluft oder Kennzeichnung. Der Kunde bleibt flexibel und bindet weniger finanzielle Mittel. Der Gerätehersteller aber wird zum Service-Unternehmen. Viele Firmen müssen also ihr unternehmerisches Konzept neu aufstellen.

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