Rainer Brehm Entkoppelung der Automatisierungshardware

Rainer Brehm ist CEO der Siemens Business Unit Factory Automation mit Sitz in Nürnberg. Nach seinem Elektrotechnik-Studium begann er 1999 bei Siemens AG, wo er verschiedene Rollen in Automatisierungstechnik, Unternehmensberatung und Sensoren übernahm. 2010 leitete er das Segment General Motion Control. Ab 2014 war er in Sao Paulo für verschiedene Divisionen zuständig und wurde 2020 CEO von Siemens Factory Automation. Zudem ist er Vorstandsmitglied bei ARENA2036 und seit Juni 2021 Vorsitzender des ZVEI-Fachverbands Automation.

Bild: Siemens
20.10.2023

Mehr Flexibilität in der Automatisierung, mehr Offenheit gegenüber Systemen anderer Anbieter, mehr IT in der OT. Die Produktion muss anpassungsfähiger werden, um die vielfältigen aktuellen Herausforderungen in der Industrie bewältigen zu können. Hierfür müssen die Automatisierung und industrielle Betriebsabläufe um IT-Fähigkeiten erweitert werden. Genau diesen Weg schlägt Siemens mit Industrial Operations X ein, wie Rainer Brehm, CEO Factory Automation, im Gespräch mit publish-industry aufzeigt.

Fachkräftemangel, instabile Lieferketten, Nachhaltigkeit, schwankende Losgrößen: Müssen wir künftig so automatisieren, dass wir auf Unvorhergesehenes automatisch reagieren können?

Automatisierung spielt eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung dieser Herausforderungen. Bei näherer Betrachtung ist es klar, dass traditionelle Produktionsmethoden erweitert werden müssen, um mit der Komplexität und Dynamik der modernen Fertigung Schritt zu halten. Insbesondere der Faktor der voranschreitenden Personalisierung und Individualisierung der Produkte führt zu kleineren Losgrößen und komplexeren Produktionsabläufen. Traditionell konzentrierten wir uns auf die Automatisierung von vorhersehbaren, wiederholbaren Aufgaben. Die Maschine macht A, dann B, dann C, und so weiter. Aber in einer Welt, in der die Anforderungen und Umstände ständig wechseln, ist mehr nötig. Anstatt nur einzelne Prozesse zu automatisieren, müssen wir über den Gesamtprozess nachdenken und wie wir die Fähigkeit zur Automatisierung in die gesamte Produktionskette integrieren können. Künstliche Intelligenz wird hier eine Schlüsselrolle spielen. Anstatt einer Maschine eine feste Abfolge von Aktionen zu diktieren, rüsten wir sie mit Fähigkeiten oder „Skills“ aus und lassen sie dann entscheiden, wie sie diese Fähigkeiten zur Erfüllung ihrer Aufgabe einsetzt. So könnte eine Maschine beispielsweise ein Bauteil auf verschiedene Arten positionieren oder montieren, je nach den spezifischen Anforderungen der jeweiligen Produktionssituation. Dieser Ansatz ermöglicht eine Automatisierung, die sich an Unvorhersehbarkeiten anpassen und diese bewältigen kann.

Mit Industrial Operations X schlagen Sie genau diesen Weg jetzt ein, um die Produktion komplett zu flexibilisieren. Ist der Kern davon, Automatisierungssysteme um neueste IT-Technologien wie KI zu erweitern?

In der Tat, IT-Technologien und KI sind das Herz von Industrial Operations X. Sie sind der Schlüssel zur Erreichung der Flexibilität, die wir brauchen, um auf die sich ständig ändernden Anforderungen der modernen Fertigung reagieren zu können. Wir setzen dabei verstärkt auf kleinere, flexiblere Module, die schnell implementiert und bei Bedarf leicht angepasst oder skaliert werden können. Dieses Vorgehen hat sich in der Softwareentwicklung bereits bewährt und ist nun auch in der Produktionstechnik angekommen. Ein zentraler Aspekt dabei ist die Nutzung von Daten. Moderne Technologien, von der klassischen Statistik bis zur künstlichen Intelligenz, sind alle datengetrieben. Allerdings ist die bloße Verfügbarkeit von Daten noch keine Garantie für nützliche Erkenntnisse oder Verbesserungen. Wir müssen die Daten nutzbar machen, indem wir sie in eine Form bringen, die wir analysieren und interpretieren können. Das ist ein Bereich, in dem KI einen großen Beitrag leisten kann. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verknüpfung der OT auf dem Shopfloor und der IT. In vielen Fabriken sind diese beiden Bereiche noch weitgehend getrennt, aber sie müssen zusammenarbeiten, um das volle Potenzial der Digitalisierung ausschöpfen zu können. Wir sprechen von Industrie 4.0, dem Internet der Dinge, der Verfolgung des ökologischen Fußabdrucks eines Produkts in Echtzeit – all das erfordert eine enge Verbindung von OT und IT. Um diese Integration zu erreichen, arbeiten wir mit dem Industrial Operations X-Portfolio an Lösungen zur Standardisierung und Harmonisierung von Daten und Prozessen zwischen diesen beiden Bereichen. Damit wollen wir aber keinesfalls unser Automatisierungs-Ökosystem Totally Integrated Automation (TIA) ersetzen, sondern beschleunigen, was wir vor Jahren mit TIA begonnen haben: Alles wirkt Stück für Stück immer mehr zusammen und wird einfach, offen, flexibel und interoperabel. Auch im Zusammenspiel mit Drittanbietern. Unser TIA-Portfolio entwickeln wir gleichzeitig weiter, zum Beispiel die Simatic-Steuerung, das Prozessleitsystem Simatic PCS 7 oder die CNC-Steuerung Sinumerik.

Machen Sie also Künstliche Intelligenz für die Automatisierung nutzbar, ohne dass Expertenwissen oder Programmierkenntnisse erforderlich sind?

Genau, das ist einer der zentralen Punkte von Industrial Operations X. Die künstliche Intelligenz ist ein mächtiges Werkzeug, das uns viele Möglichkeiten bietet, aber es ist auch komplex und kann schwer zu verstehen sein. In der Regel benötigt man eine Menge technisches Wissen, um KI-Modelle zu programmieren und zu optimieren. Das ist jedoch nicht für jeden möglich oder praktisch – das wollen wir ändern. Anstatt zu verlangen, dass unsere Nutzer die inneren Abläufe von KI-Modellen verstehen und diese programmieren, stellen wir ihnen Werkzeuge zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen, die Modelle zu „trainieren“. Der Nutzer gibt dem Modell Beispieldaten und das Modell lernt aus diesen Daten, wie es die gestellte Aufgabe lösen soll. Auf diese Weise wird die Komplexität der KI-Modelle verborgen und sie werden für den Nutzer zugänglich und nutzbar. Wir setzen auf sogenannte neuronale Netze, eine Art von KI-Modell, das sich durch seine Fähigkeit auszeichnet, Muster in Daten zu erkennen und zu lernen. Neuronale Netze sind besonders gut darin, komplexe, nicht-lineare Zusammenhänge zu modellieren, was sie ideal für viele der Herausforderungen in der Fertigung macht. Mit dem Industrial Operations X-Portfolio ermöglichen wir es jetzt Nutzern neuronale Netze zu trainieren und einzusetzen, ohne dass sie die technischen Details verstehen oder sich um die Programmierung kümmern müssen. Automatisierungstechniker in unserer Industrie und wir als Siemens haben die Chance, höchst effiziente neuronale Netze zu erschaffen. Denn nur wir können die KI in den Kontext der Automatisierung bringen, weil wir das tiefe Branchenwissen haben und täglich damit arbeiten. Genau das unterscheidet uns von den großen Hyperscalern. Die KI, die wir unseren Kunden anbieten, die „lebt“ also Automatisierung, weil wir sie ständig trainieren und sie quasi in der Produktion aufwachsen lassen.

Und wie bringen Sie denn in der Praxis die KI an der Maschine zum Laufen? Nutzen Sie hier Docker-Container auf beliebigen Edge-Devices?

Ja, denn wir müssen Standardtechnologien nutzen, damit möglichst viele Unternehmen mit ihren Lösungen und Apps zusammenarbeiten können. Wir beginnen typischerweise mit dem Entwickeln und Testen unserer Anwendungen in einer Docker-Umgebung auf unseren Entwicklungs- und Testsystemen. Diese Umgebung erlaubt es uns, Softwareentwicklung und -tests in einer kontrollierten und reproduzierbaren Umgebung durchzuführen. Sobald die Anwendung bereit für die Produktion ist, können wir den Docker-Container einfach auf das Edge-Gerät in der Produktion verschieben. Hierdurch gewinnen wir eine enorme Geschwindigkeit und Flexibilität, da wir den Container und die darin enthaltene Anwendung in jeder geeigneten Infrastruktur einsetzen können. In der Produktionsumgebung spielen die Edge-Geräte eine entscheidende Rolle. Sie sind oft das erste Glied in der Verarbeitungskette und erfassen und verarbeiten Daten aus der physischen Welt, beispielsweise von Sensoren oder Aktoren. Durch die Ausführung der Datenverarbeitung und der Anwendungslogik auf den Edge-Geräten, nahe der Datenquelle, können wir die Netzwerklatenz reduzieren und die Effizienz und Reaktionszeit unserer Systeme erheblich verbessern.

Werden software-definierte Steuerungen der klassischen SPS also bald den Rang ablaufen?

Das glaube ich nicht. Unsere bewährten SPSen werden nicht verschwinden, wir haben sogar deutliche Wachstumsraten in bestimmten Anwendungsmärkten. Auch kann noch nicht überall eine virtualisierte Steuerung verwendet werden, wenn es extrem harte Echtzeit- und Safety-Anforderungen gibt. Die softwaredefinierte Automatisierung entwickelt sich aber ständig weiter und ich glaube, dass wir nur an der Spitze des Eisbergs stehen, was die Möglichkeiten von Edge-Computing und Containerisierung in der Automatisierungsbranche angeht. Ich sehe eine Zukunft, in der diese Technologien noch tiefer in unsere Infrastrukturen integriert sind und eine noch größere Rolle bei der Erweiterung und Verbesserung unserer Automatisierungssysteme spielen. Das bedeutet, dass wir in der Lage sein werden, noch flexiblere, skalierbare und effiziente Systeme zu entwickeln, die uns dabei helfen, den steigenden Anforderungen und der wachsenden Komplexität unserer Branche gerecht zu werden. Deshalb konzentriert sich Industrial Operations X auf die datenzentrierte Automatisierung. Wenn alle Daten in den Edge-Devices immer zugänglich sind, ermöglicht das auch die einfache Verbindung zum digitalen Zwilling – hier können sie dann parallel simulieren oder Prozessoptimierungen austesten. Neben den Daten spielen auch Assets eine wichtige Rolle, sei es eine Pumpe, ein Roboterarm, eine Rezeptur oder ein Auftrag. Bei der Programmierung der Steuerung werden diese Assets als Datenbausteine angelegt, die kontextualisierte Informationen enthalten, wie beispielsweise die Geschwindigkeit oder Alarme einer Pumpe. Über standardisierte Schnittstellen erhält man dann über Abfragen wie beispielsweise „Gib mir alle Pumpen mit Störungen“ detaillierte Informationen über die Assets, einschließlich ihrer Verbindungen und Feldbusse. Dies erleichtert die Arbeit von IT-Entwicklern und eröffnet neue Möglichkeiten zur Auswertung und Nutzung der Daten. Die Assets sind über einen Datenpool immer zugänglich – das reduziert den manuellen Aufwand erheblich und Anwendungen wie beispielsweise Augmented Reality sind viel einfacher umsetzbar.

Ist ein Ansatz von Industrial Operations X auch, vermehrt IT-Entwickler, IT-affine Menschen für OT zu begeistern? Weil klassische Steuerungsprogrammierer und somit Nachwuchs gibt es immer weniger….

Wir verfolgen zwei Ansätze, um dem Rückgang an klassischen Steuerungsprogrammierern und dem Nachwuchsmangel entgegenzuwirken. Der erste Ansatz besteht darin, IT-Entwickler und IT-affine Personen für den Bereich der operativen Technologie zu begeistern. Wir haben festgestellt, dass viele IT-Entwickler bereits über Fähigkeiten verfügen, um Funktionalitäten für operative Abläufe zu programmieren. Deshalb haben wir uns entschieden, den Fokus nicht nur auf die Automatisierung zu legen, sondern auch auf die Bereiche Operation und Analytics. Unser Ziel ist es, ihnen die Möglichkeit zu geben, Apps zu entwickeln, Analysen durchzuführen und Optimierungen vorzunehmen. Daher haben wir uns für den Namen Industrial Operations X entschieden, um die Vielfalt der Tätigkeiten und Anwendungen widerzuspiegeln. Der zweite Ansatz zielt darauf ab, die Steuerungsprogrammierung zugänglicher zu machen. Früher war diese mit Kontaktplan eher wie ein "Low Code" zu verstehen, bei dem Anwender wie Elektriker, die nicht programmieren konnten, mit logischen Schaltungen arbeiteten. Allerdings nimmt die Zahl solcher Fachkräfte ab. Deshalb haben wir in unserem Ecosystem Simatic AX entwickelt. Die Lösung bietet IT-orientierten Anwenderinnen und Anwendern eine vertraute Entwicklungsumgebung, basierend auf Visual Studio Code. Mit gewohnten Mechanismen, wie objektorientierter Programmierung in Structured Text, Projektversionierung über GIT oder integrierten Unittests, kann die Softwarequalität der SPS-Programme maßgeblich erhöht werden. So lässt sich eine Steuerung programmieren, als ob ein „normales“ Programm geschrieben wird. Also zu Ihrer Frage zurück: Ja, mit Industrial Operations X wollen wir IT-affine Menschen für die Welt der Automatisierung begeistern.

Will Siemens mit seiner softwarebasierten Automatisierung auch die Notwendigkeit tiefen Domänenwissens abpuffern, indem Know-how durch KI „kodifiziert“ wird? Denn der Fachkräftemangel wird ja nicht besser...

Das wollen wir! Die Idee ist, das umfangreiche Fachwissen in einer kodifizierten Form bereitzustellen, um den Fachkräftemangel zu bewältigen. Es wäre möglich, mithilfe von KI-Algorithmen bestimmte Domänenkenntnisse zu erfassen und in automatisierte Prozesse zu integrieren. Dies würde es Personen mit weniger Erfahrung ermöglichen, komplexe Aufgaben effizienter zu bewältigen. Allerdings befinden wir uns noch in der Evaluierungsphase und prüfen die Möglichkeiten und Auswirkungen einer solchen Implementierung. Ein konkretes Beispiel, an dem wir arbeiten, ist die Batterieindustrie. Hier treten jedes Mal hohe Ausschussraten bei der Produktion der Elektrodenbahnen auf, wenn Maschinen in den Betriebsmodus gehen und dann nicht optimal laufen. Durch den Einsatz von KI-basierten Assistenzsystemen können Maschinenbediener mit geringerer Erfahrung unterstützt werden. Dies geschieht durch die Bereitstellung eines Golden Batch, die von Maschinenbedienern mit hoher Erfolgsrate entwickelt wurden, weil die KI hier lernt. Mithilfe von KI können dann Assistenzsysteme erstellt werden, die Geschwindigkeitseinstellungen anpassen oder sogar die Maschine autonom betreiben können. Durch die Nutzung solcher Technologien wird angestrebt, den notwendigen Erfahrungslevel der Bediener zu senken. Wir wollen mit Industrial Operations X die Automatisierung somit nicht nur flexibler machen, sondern auch einfacher nutzbar, damit Industrieunternehmen wettbewerbsfähig bleiben und sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können.

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