Zwischen Stillstand und Bewegung Ist Industrie 4.0 bereit für die Zukunft?

Ist das Konzept der Industrie 4.0 gescheitert? Bewegen wir uns nicht schnell genug? Und wenn ja, was muss sich ändern?

Bild: iStock, sanjeri
28.02.2023

Von der Überwachung der Lieferkette über die intelligente Verwaltung von Lagerbeständen bis hin zur Inbetriebnahme und Wartung des Anlagenbetriebs – die digitale Transformation ist längst in den deutschen Fabrikhallen angekommen. Dennoch ist die vierte industrielle Revolution, wie sie seinerseits proklamiert wurde, bislang ausgeblieben. Insbesondere vom geschäftlichen Durchbruch beim Vertrieb digitaler Lösungen im industriellen Umfeld ist bislang zu wenig zu sehen. Ist das Konzept der Industrie 4.0 damit gescheitert? Und wenn ja, was muss sich ändern?

Ein systemimmanentes Problem ist sicherlich, dass der Schwerpunkt der Digitalisierung in Europa, und damit auch in Deutschland, in den vergangenen Jahren zu sehr fabrikzentriert und weniger marktorientiert war. Daher sehen wir auch nach zehn Jahren keine nennenswerten Fortschritte bei Produktivität und Profitabilität. Das heutige Produktionsniveau ist auf dem Stand des Jahres 2011. Die Produktivität im Maschinenbau ist trotz hoher Auslastung sogar noch gesunken. Das sind zehn verlorene Jahre, in denen die breite Masse der Industrieunternehmen in ihrer digitalen Transformation kaum vorangekommen ist und weitgehend kein Umsatz- und Gewinnwachstum durch Investitionen in die Digitalisierung erreicht hat. Studien stellen sogar einen negativen Produktionseffekt fest, obwohl vielfältig in Software und Co. investiert wurde.

Diese Bilanz ist deswegen auch alarmierend, weil Unternehmen aus der Industrie längst weiter sein sollten, um sich für die neuen Herausforderungen der Zukunft zu wappnen. Während es in der Vergangenheit darum ging, die industrielle Produktion mit Informations- und Kommunikationstechnologien zu verzahnen, müssen sich insbesondere Unternehmen aus der Produktion für die auch im B2B-Bereich anbahnende Plattformökonomie aufstellen. Unternehmensentscheider sollten heutzutage digitale Plattformen, Mehrwertdienste und Geschäftsmodelle in ihre strategischen Überlegungen mit einbeziehen – sowie auch die höchste Kundenzentrierung und Teilhabe an passenden Ökosystemen anstreben.

Es gilt mehr denn je, nicht den Anschluss an die heranrauschende industrielle Plattformökonomie zu verschlafen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Hyperscaler wie Amazon Web Services, Microsoft und Google den Aufbau von Industrie-Plattformen forcieren.

Handlungsempfehlungen

Um den Rückstand in der Digitalisierung aufzuholen und den Bedürfnissen der Endkunden gerecht werden zu können, stehen Unternehmen also vor der großen Aufgabe, sich nicht nur mit Digitalisierungsinitiativen in der Fabrikhalle oder im Büronetzwerk auseinandersetzen, sondern auch intensiv mit digitalen Geschäftsoptionen und werttreibenden Services beschäftigen zu müssen.

Hierzu gehört die Identifizierung von neuen digitalen Mehrwertdiensten, die das Unternehmen anbieten beziehungsweise monetarisieren kann, sowie die Entwicklung von Lösungen, die das eigene Produkt- und Serviceportfolio plattformkompatibel machen. Es müssen außerdem Konzepte und Pläne zur Optimierung und Digitalisierung der Wertschöpfungsketten in der Smart Factory auf den Tisch – mit einem Fokus darauf, welche Produkte und Services das Unternehmen digitalisieren und zur Marktreife bringen kann.

Beispiel für Mehrwertdienste

Ein Maschinenanlagenbauer kann über digitale Mehrwertdienste einerseits den Ressourceneinsatz beim Kunden optimieren sowie auch weiteren gewinnbringenden Output generieren – beispielsweise indem er eine Vergütung nach Gutstückfertigung (ein klassisches Product-as-a-Service-Modell) oder nach Kubikmeter Druckluft einführt. Neben einem flexiblen und kundennahen Verkaufs- und Nutzungsmodell für den Endkunden profitiert der Maschinenanlagenbauer außerdem von einem besseren, weil zielgerichteteren After-Sales.

Bei Mehrwertdiensten ist die Auseinandersetzung mit Kundenbedürfnissen, aber auch mit der eigenen Herangehensweise zwingend. Netflix und Amazon haben es im Consumer-Bereich vorgemacht, jetzt ist die B2B-Industrie am Zug.

Für die Entscheider in den Unternehmen empfiehlt sich hierfür ein dreistufiger Ansatz:

  • Definition des Marktsegments: Es gilt, den Markt nach anwendungsspezifischen Charakteristika wie der Unternehmensgröße der Kunden, IT-Affinität, digitalem Reifegrad der Kunden sowie deren Prozess-Know-how zu segmentieren.

  • Aufzeigen des Mehrwerts für den Kunden: Der Segmentierung folgt eine ausführliche Betrachtung und Definition des Mehrwerts aus Kundensicht.

  • Festlegen des eigenen Geschäftsmodells: Zuletzt muss das bestmögliche Geschäftsmodell zielgruppenspezifisch festgelegt werden, dessen Alleinstellungsmerkmal gegenüber Wettbewerbern klar definiert und der technologische Vorsprung sowie die Risiken des neuen Geschäftsmodells umfassend bewertet werden.

Auch die Frage, ob sich die Entwicklung einer eigenen Plattform lohnt, ist im Endeffekt von der jeweiligen Endkundenindustrie abhängig. Das wird auch in einer McKinsey-Studie deutlich: Bei Endkundenindustrien mit großen Endkunden wie der Automobilindustrie haben Technologie-Player häufig schon die Plattformstandards der Zukunft gesetzt und es wären verlorene Ressourcen, hier noch mitspielen zu wollen. Stattdessen empfiehlt es sich, die Kompatibilität mit bestehenden Plattformen zu maximieren. Sind die Endkundenindustrien allerdings von kleineren Endkunden geprägt und noch frei von einem Plattformstandard, so kann es eine durchaus lohnende Strategie sein, Kooperationen mit Marktteilnehmen wie etwa Wettbewerbern einzugehen und gemeinsam eine industriespezifische Plattform zu entwickeln.

Entscheidend bei der Entwicklung einer übergreifenden Digitalstrategie sind allerdings auch die Basics, also, dass das IT- und organisationsspezifische Fundament auf einem soliden Stand ist. Egal ob IT-, ERP-, MES-, Finanzbuchhaltungs- oder Planungs-Systeme – sie alle müssen in einen ordentlichen Zustand gebracht werden, also möglichst aktualisiert sein. Hierzu bieten sich breit aufgestellte ERP+ Lösungen, wie die von ProAlpha, an. Nur dann können Unternehmen die Prozesse in der eigenen Organisation optimieren und auch (so banal das klingt) entsprechend an den Daten arbeiten – diese also für die eigenen Geschäfte verwertbar machen.

Transformation in den Köpfen

Die Digitalisierung der Industrie hat ohne überzeugende Geschäftsmodelle einen schwierigen Weg vor sich. Entscheidend ist nicht mehr nur, wer Maschinen und Anlagen mit der größtmöglichen technischen Finesse bauen und seine Automatisierungsprozesse in der Fabrikhalle optimieren kann, sondern wie Unternehmen sich so positionieren, dass sie einen größtmöglichen Mehrwert für Kunden generieren und monetarisieren. Es muss also ein „Umdenken“ – das von der Unternehmensspitze getrieben wird – stattfinden.

Nur wer die strategische Relevanz digitaler Mehrwertdienste erkennt und adressiert, wird in Zukunft seine Position halten und von der eigenen Prozessnähe sowie dem tiefen Anlagen-Know-how profitieren. Die Industrie muss erkennen, dass digitale Plattformen und Mehrwertdienste heute bereits mehr als nur eine digitale Ergänzung des bisherigen Geschäfts sind. In wenigen Jahren wird sie wettbewerbsentscheidend sein. Es gilt deshalb herauszufinden, in welchen Bereichen und mit welchen Akteuren es sich für Unternehmen lohnt, digitale Plattformen zu etablieren und wie eine höhere Kompatibilität zu bestehenden Systemen erreicht werden kann. Die Zeit rennt – wer jetzt startet, rüstet sich für das kommende digitale Zeitalter der Industrie und hat gute Chancen, auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben – auch im globalen Rennen um Marktanteile.

Bildergalerie

  • So können Maschinen- und Anlagenbauer weiteres Geschäft generieren.

    So können Maschinen- und Anlagenbauer weiteres Geschäft generieren.

    Bild: ProAlpha

Firmen zu diesem Artikel
Verwandte Artikel