Obsoleszenz Wenn die Bauteile aussterben...

14.02.2012

Tausende von Bauteilen werden jedes Jahr abgekündigt - und stellen Entwickler vor die zeitaufwändige und teure Aufgabe eines Re-Designs. Die Component Obsolescence Group hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Bauteilesterben zu verhindern, und setzt dabei vor allem auf den Dialog mit den Herstellern.

Ohne Abkündigungen wären in vielen Unternehmen etwa 20 Prozent der Belegschaft überflüssig“, sagt Ulrich Ermel provokativ. „Das sind Mitarbeiter, die nur Produktpflege betreiben - aber nicht im Sinne einer Produktverbesserung, sie halten das Produkt lediglich am Leben.“ Wenn man Ulrich Ermel, dem Vorsitzenden der Component Obsolescence Group Deutschland (COG) zuhört, scheinen Produkt-Abkündigungen zwar nicht das größte Übel der Menschheit, aber doch zumindest das des Elektronik-Entwicklers zu sein. Allerdings weiß Ulrich Ermel auch, wovon er spricht: Bei der TQ-Group ist er für das Obsolescence Management verantwortlich, „das ist der Job des Hiobsbotschafters“, wie er selber über seine Tätigkeit sagt.

Fehlerfreie Daten statt zusätzlicher Arbeitsplätze

Pro Tag erreichen ein produzierendes Unternehmen mittlerer Größe etwa 15 Produkt-Abkündigungen und 15 Änderungen - das alleine ist schon eine Menge. Hinzu kommt ein weiteres Problem: „Viele Unternehmen kaufen bei verschiedenen Quellen und bekommen diese Meldungen daher mehrfach“, berichtet Ulrich Ermel aus der Praxis. „All diese Informationen müssen von irgendwem abgearbeitet werden.“ Das ist einer der Ansatzpunkte der COG: In der Arbeitsgruppe SmartPCN arbeitet man an einem Standard, bei dem die Distributoren alle Informationen zu einer Abkündigung in einem einheitlichen Format angeben, das maschinell lesbar ist. „Die herkömmliche Vorgehensweise schafft zwar vielleicht Arbeitsplätze, ist aber eine Fehlerquelle“, so Ulrich Ermel. Die SmartPCN-Daten können in SAP eingelesen werden und müssen dann nur noch fachlich geprüft werden. Allerdings will die COG mit ihren 85 Mitgliedern hier keinen Alleingang starten. Wie Ulrich Ermel berichtet, steht man im engen Dialog mit anderen Verbänden, so arbeitet auch der ZVEI schon an einer einheitlichen PCN-Methodik.

Das ist generell das Anliegen der COG: Es geht nicht darum, die Interessen einzelner Gruppen zu wahren, sondern in einem möglichst breiten Kontext gegen das Problem der Obsolescence vorzugehen. Daher legt man in der in den 90-er Jahren gegründeten Vereinigung Wert auf eine bunt gemischte Mitgliederstruktur: Vom Fertigungs- über Beratungsdienstleister, Distributoren und freie Händler bis zum OEM ist alles vertreten. Ulrich Ermel legt auch großen Wert darauf, dass keine Gruppe zu groß wird. In der Verbandsarbeit versucht man, den Konkurrenzgedanken unter den Mitgliedern auszuschließen - und das funktioniert laut Ulrich Ermel auch sehr gut. „Es geht sehr viel um Best practice; darum, von anderen zu lernen“, erläutert er das Prinzip.

Erste Erfolge bei Herstellern zu verzeichnen

Kaum vertreten sind indes die Bauteile-Hersteller: „Die sind ja auch eher Auslöser des Problems“, sagt Ulrich Ermel lachend. Vertreten sind sie dennoch auf den Treffen der COG, die einmal pro Quartal stattfinden, oder auf der jährlichen Hausmesse. Diese Beteiligung trägt aus Sicht von Ulrich Ermel auch schon erste Früchte. „Wenn man beim Design-In nach Obsolescence-relevanten Daten fragt, bekommt man von den Herstellern inzwischen Infos“, erklärt er. „Das war vor einigen Jahren noch ganz anders. Da herrscht inzwischen ein ganz anderes Bewusstsein. Die Hersteller sehen das als Chance, langfristig verfügbare Bauteile anbieten zu können.“ Oder sie bieten die eigentlich abgekündigten Bauteile bei entsprechender Nachfrage doch noch weiter an.

Produkte exklusiv weiterleben lassen

„Texas Instruments und Linear Technology beispielsweise verfolgen eine Non-Obsolescence-Politik“, so Ulrich Ermel. „Maxim kündigt inzwischen zwar ab, mit einer gewissen Minimum Order Quantity können aber noch exklusive Bestellungen gemacht werden.“ Weiter führt er aus: „Die Minimum Order Quantity liegt derzeit bei 500 Stück, anschließend kann nach Bedarf bestellt werden. Das ist genau das, was die Industrie braucht.“ Und eines der wichtigen Ziele der COG. Von den Herstellern sollen mehr Langzeitverfügbarkeitsprogramme angeboten werden. Mit Micron und Freescale sind zwei weitere Unternehmen ebenfalls aktiv geworden - was Ulrich Ermel zumindest als kleinen Erfolg wertet. „Die Hersteller sollen lieber einen Baustein für die Industriekunden länger auf dem Markt halten und den Preis hochziehen, als ihn abzukündigen“, erklärt er.

Aber auch auf Entwickler-Seite ist es mit dem Bewusstsein oft nicht weit her. „Schon beim Design muss man einen Obsolescence-Plan machen“, so Ulrich Ermel. „Man muss schon festlegen, welche Bauteile man als nächstes einsetzen will. Hier ist ein Austausch, wie er in der COG möglich ist, besonders wichtig.“ Denn ohne Frage verkompliziert sich der Entwicklungsprozess, weil man fünf oder zehn Jahre vorausdenken muss. Dabei weiß Ulrich Ermel aus eigener Erfahrung, dass die Zeit zum Entwickeln sowieso schon knapp bemessen ist und man im Zweifelsfall zu Altbewährtem greift. Das kann allerdings skurrile Züge annehmen. Ulrich Ermel nennt das Beispiel eines Entwicklers, der seit zehn Jahren immer wieder den gleichen digitalen Temperatursensor einsetzt und längst kein Datenblatt mehr liest, weil er das Bauteil in- und auswendig kennt. Allerdings wird der Sensor vom Hersteller längst nicht mehr für neue Designs empfohlen, stattdessen gibt es ein Nachfolge-Modell mit identischem Pin-out, identischem Die, besserem EMV-Verhalten und einem um 35 Prozent niedrigeren Preis. „Da muss man einfach mal anfangen, über so etwas nachzudenken“, so Ulrich Ermel.

Eine perfekte Lösung wird es nicht geben

Denn einen Ausweg aus der Obsoleszenz gibt es nicht. „Man kann sich nur darauf vorbereiten, ein Bewusstsein schaffen, die Kosten einplanen und von den Erfahrungen anderer profitieren“, fasst Ulrich Ermel die Möglichkeiten zusammen. Weit verbreitet ist aus seiner Sicht allerdings immer noch das reaktive Obsolescence Management: Bei einer Abkündigung werden Komponenten auf Vorrat gelagert, die man vielleicht irgendwann noch einmal braucht - und damit wird Kapital gebunden. Auch die ideale Strategie existiert laut Ermel nicht. „Es gibt nur theoretische Modelle, Strategien und Wege, die immer auf das individuelle Problem angepasst werden müssen“, erläutert er. „Es gibt eine reaktive und eine proaktive Strategie sowie Prävention - die richtige Kombination daraus muss jedes Unternehmen für sich selber finden. Man kann nie sagen, ob man im Optimum ist oder nicht.“

Obsolescence Managemet kann Kosten drastisch senken

Der erste Schritt dazu ist natürlich, sich der Problematik bewusst zu sein und dann auch eine entsprechende Strategie zu implementieren. „Man sollte es machen, aber keiner macht es gerne“, weiß Ulrich Ermel aus eigener Erfahrung. Aber es gibt einen ganz einfachen Grund, warum Obsolescence Management für jedes Unternehmen ein Thema mit absoluter Priorität sein sollte. „Ohne Abkündigungen könnten viele Produkte um 20 bis 30 Prozent günstiger werden“, erläutert Ulrich Ermel.

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