Automatisierung „Industrie 4.0 schreit nach Modulen“

WAGO GmbH & Co. KG

Namur-Vorstand Dr. Thomas Tauchnitz und Ulrich Hempen von Wago sind Verfechter des diensteorientierten Ansatzes für die modulare Automation.

Bild: Markus Hintzen
05.05.2016

Eine gute Idee braucht starke Unterstützer. Die modulare Automatisierung hatte sie in Dr. Thomas Tauchnitz von der Namur und Ulrich Hempen von Wago. Den beiden Automatisierungsexperten liegt es nicht zurückzublicken. Sie schauen lieber in die Zukunft – und sehen sie in der Verknüpfung von Modularität und Industrie-4.0-Ansätzen. Und das nicht nur in der Prozessindustrie.

Herr Dr. Tauchnitz, ist es nicht verwunderlich, dass ausgerechnet Wago bei der Standardisierung der modularen Automation eine Vorreiterrolle eingenommen hat?

Dr. Thomas Tauchnitz, Sanofi Aventis:

Wago hat sich wohl ausgerechnet, dass es über das Thema Modultechnik möglich sein sollte, von unten in die Prozessautomatisierung einzusteigen. Es über einen direkten Wettbewerb mit den Leitsystemherstellern zu versuchen, wäre wohl nicht erfolgreich gewesen. Die Anlagenbetreiber haben bisher den Lieferanten von Package Units die Verwendung ganz bestimmter marktgängiger SPSen vorgeschrieben – und auf denen stand nicht Wago drauf. Die Standardisierungsbestrebungen beinhalteten für Wago eine Chance, gegen die etablierten SPS-Hersteller anzukommen.

Warum sind die großen Leitsystemhersteller nicht auf die Idee gekommen, sich in diesem Bereich zu engagieren und so den Wunsch der Kunden zu erfüllen?

Tauchnitz:

Wollen es denn die Kunden? Sie bevorzugen immer noch handgestrickte Individuallösungen. Solange sie genug Geld dafür haben, können sie sich die designen lassen. Dazu brauchen sie die Modularisierung nicht.

Wer braucht sie denn, Herr Hempen?

Ulrich Hempen, Wago:

Die, die mit ihren Produktionsanlagen flexibel umgehen und sie bei Bedarf verändern wollen. Noch sind das nicht viele, doch das wird sich durch die steigenden individuellen Kundenbedürfnisse und die Einführung der Mechanismen von Industrie 4.0 ändern. Modularität schafft Flexibilität – und mehr Durchgängigkeit.

In welchen Branchen beobachten Sie derzeit den Übergang zu flexiblen Prozessen als Treiber für die Modularisierung?

Hempen:

Die Notwendigkeit, den Produktionsfluss anzupassen, ergibt sich zum Beispiel in der pharmazeutischen Industrie. Für dezentrale Energieerzeugungsnetze ist der Ansatz ebenfalls interessant; auch sie bestehen aus Modulen, die man in ein zentrales Führungssystem integrieren muss. Auch aus der Fertigungsindustrie bekommen wir inzwischen viele Anfragen.

Tauchnitz:

Modularisierung ist ein Sammelbegriff. Zum einen sind Package Units gemeint, die integriert werden müssen. Dieses Integrationsproblem hat jeder, egal ob Grundchemikalien-Produzenten oder Spezialitätenhersteller. Dagegen ist Modularisierung im eigentlichen Sinn noch eine Nische, aber eine mit Perspektive. Doch wäre das unser einziges Ziel, wäre das im Moment ein viel zu kleiner Markt. Es gibt die F3-Factory und dann lange nichts.

Das Projekt F3-Factory hat wohl bei manchen den Eindruck hinterlassen, das Problem der Integration sei längst gelöst.

Tauchnitz:

Und wie viele F3-Factories kennen Sie? Die ehemalige Namur-Vorsitzenden Prof. Bernd Greiner und Norbert Kuschnerus haben gern gesagt: „Gute Ideen erkennt man an vielen Trittbrettfahrern.“ Danach ist F3 bisher noch nicht als gute Idee erkannt. Das klingt vielleicht hart, aber die Branche stürzt sich nicht gerade auf derartige Modelle.

Hempen:

Aus verfahrenstechnischer Sicht ist die Modularisierung in der F3-Factory durchaus gelungen. Doch die Automatisierung muss jetzt nachziehen

Mir fällt auch ein Zitat ein: Wago-Geschäftsführer Sven Hohorst meinte, bei Sanofi-Aventis sei dezentrale Automation für intelligente Module längst Realität. Ist das so, Herr Tauchnitz?

Tauchnitz:

Da reden wir über eine dritte Art von Modulen: logische Module, die wir in der Planung nutzen. Stellen Sie sich eine Art Abziehbilder für die Grundfunktionen vor, etwa einen Reaktor mit den Funktionen Temperieren, Rühren, Transferieren. Auf dieser Basis gelingt es, enorm schnell Fließbilder zu entwerfen, Kosten zu ermitteln und zu automatisieren. Bei Entwürfen und in der Prozessrealisierung wurden wir damit sehr effizient. Doch wir können weder Package Units noch zusammensteckbare Hardware-Komponenten nutzen.

Aber Sie erhöhen damit die Engineering-Geschwindigkeit.

Tauchnitz:

Wobei wir feststellen mussten, dass unsere Engineering-Tools das in keiner Weise unterstützen. Wenn wir aus den Equipment-Modulen das R&I erzeugen, sehen wir im R&I nicht mehr, ob ein Ventil zu dem Equipment Temperieren oder zu dem Equipment Dosieren gehört. Die strukturelle Logik wird nicht dargestellt.

Gegenüber der P&A-Redaktion haben Sie, Herr Tauchnitz, die Hoffnung geäußert, dass das gemeinsame Konzept für modulare Automation – im Konsens von Herstellern und Betreibern – Realität wird. Das war vor etwa einem halben Jahr. Die betreffenden Namur-ZVEI-Arbeitskreise haben seitdem oft getagt. Ist aus Ihrer Hoffnung nun Gewissheit geworden?

Tauchnitz:

Ich bin sehr optimistisch. Die, die in den Arbeitskreisen mitmachen, treiben es intensiv voran. Auf der Namur-Hauptsitzung 2016 sollen Prototypen gezeigt werden.

Hempen:

Für 2016 haben wir uns vorgenommen, mindestens drei Projekte zu realisieren. Daran arbeiten wir nun – die Kunden dazu haben wir gefunden. Noch werden das alles Prototypen sein; noch ist die Spezifikation ja nicht finalisiert.

Wie realistisch ist ein Standard, der nicht nur berücksichtigt, was die Namur, also letztlich Chemie- und Pharma-Industrie, will? Sondern der gleichzeitig den Erfordernissen der Verpackungsindustrie oder Factory Automation gerecht wird?

Hempen:

Das wird die Praxis zeigen. Ich bin davon überzeugt, dass das Konzept der Dienste orientierten Kommunikation zu Modulen nicht nur in der Prozessindustrie benötigt wird.

Geht über die Modularisierung nicht eine gehörige Portion Individualität verloren, also auch ein Wettbewerbsvorteil für die Firma, die darauf verzichtet, alles individuell zu planen?

Tauchnitz:

Glaubt denn jemand, er kann den Konkurrenzkampf mit anderen Chemiefirmen durch eine bessere Temperaturregelung gewinnen? Letztlich ist die technische Infrastruktur nicht der Hauptunterschied zwischen den Firmen. Ich sehe darin überhaupt keine Wettbewerbsbeschränkung.

Gewöhnungsbedürftig wird es dennoch für viele Ingenieure sein, nun mit Modulen anstelle von Einzelkomponenten zu planen.

Tauchnitz:

Sie müssen künftig den Ehrgeiz haben, Module intelligent zu koppeln, also mit den vorhandenen Mitteln eine vernünftige Anlage zusammenzustellen und nicht etwas neu zu erfinden, was man auch kaufen kann.

Auch die Modulhersteller müssen Ihren Weg mitgehen. Die Spezialmaschinenhersteller also. Für die ist bislang Losgröße eins der Normalfall. Gerade die Integrationsleistung differenziert viele vom Wettbewerb. Haben denn die Maschinenbauer tatsächlich Interesse, sich zu Modulherstellern zu entwickeln?

Tauchnitz:

Es kann schon sein, dass ein Stück Geschäftsmodell wegfällt – der Verkauf von Ingenieursdienstleistung zum Inte­grieren. So ist das Leben. Früher brauchte ich einen Informatiker, um einen Drucker an meinen Rechner anzuschließen. Inzwischen kann ich es spielend selbst. Für den Informatiker ist das, was da wegfällt, lediglich „monkey work“.

Hempen:

Dennoch wird der Spezialmaschinenbauer auch künftig mit jeder Anlage seine Spezifität haben. Das Dima/MTP-Konzept sieht ja keine Standardisierung von Modulen vor, sondern eine einfache Integration dieser Module in die Prozessleitebene. Ich rechne damit, dass viele Anlagenbauer die Standardisierung begrüßen werden, da eben dieser Integrationsaufwand deutlich verringert wird.

Beziehen Sie Anlagenbauer mit ein bei der Entwicklung Ihres Konzepts?

Hempen:

Ja, wir haben 2015 damit begonnen, sie einzubinden. Teilweise ist uns das auch gelungen, doch noch nicht in dem Maße, wie wir uns das vorgestellt haben.

Der VDMA Großanlagenbau hat bereits einen Infotag veranstaltet, überschrieben mit „Standardisierung und Modularisierung“. Erstaunt Sie das?

Hempen:

Überhaupt nicht. Großanlagenbauer wollen modularisieren. Ein Zementanlagenbauer beispielsweise wünscht sich, seine Anlagen einfach aus Modulen zusammenstecken zu können. Stattdessen muss er bislang immer wieder neu planen.

Tauchnitz:

Großanlagenbauer haben das gleiche Integrationsproblem wie wir als Endanwender. Wir alle sind derzeit noch gezwungen, uns einen Park von Maschinen zusammenzukaufen, die keine gemeinsame Sprache sprechen und die wir zu einem großen Ganzen integrieren müssen.

Als Pharmaunternehmen betreibt Sanofi-Aventis auch aufwendige Verpackungsanlagen. In diesem Sektor gibt es schon Bestrebungen von Anlagenbauern, Anlagen modular zu errichten. Wie beurteilen Sie das, Herr Dr. Tauchnitz?

Tauchnitz:

Davon kommt nichts an. Wir kaufen weiterhin verschiedene Maschinen zusammen – Abfüllmaschinen, Kontrollmaschinen, Verpackungsmaschinen –, die alle nicht miteinander reden. Wir müssen dann die Daten eines Batches zusammensammeln, in mühsamer Handarbeit. Zudem sind konzeptionelle Fragen zu beantworten. Der Batch Record dokumentiert ja alles: von der Wirkstoffproduktion über die galenische Herstellung, Abfüllung und Verpackung bis zum Versand über den Großhändler zur Apotheke. Das sind Prozesse, die über Monate laufen und auch räumlich getrennt sind. Dieser Datenhaushalt zu einer Charge muss gemanagt werden. Auch das wollen wir baukastenartig lösen.

Hempen:

Das sind Anforderungen, die irgendwann Industrie 4.0 erfüllen soll.

Tauchnitz:

Industrie 4.0 schreit für mich nach Modulen. Es kursieren ja seltsame Vorstellungen zu Industrie 4.0 – der Vorstand könne dann gucken, ob ein bestimmter Tank voll sei. Wenn sich ein Vorstand dafür interessiert, hat er seinen Job verfehlt. Er benötigt eine Aussage, die ihm etwas nützt, möglicherweise auf Basis des Tankfüllstands. Dazu benötigt er logische Einheiten, also Module. Dann bekommt er eine verdichtete Information, etwa wie es um die Lieferfähigkeit in einem bestimmten Land bestellt ist. Ähnlich wie bei meinem Batch Record. Ich will nicht wissen, wie hoch die Temperatur im Fermenter zu einer bestimmten Zeit war. Sondern, ob eine bestimmte Charge mit der richtigen Temperatur hergestellt wurde. Dazu brauche ich die Chargeninformation. Alles andere ist Datenmüll. Eine sinnvolle Strukturierung erhalte ich nur über Module.

Aber ist der modulare Aufbau einer Anlage Voraussetzung dafür, Daten über einen Produktionsprozess zu integrieren?

Tauchnitz:

Nein, ich rede von logischen Modulen.

Hempen:

Benötigt wird der Durchgriff auf jeden Parameter.

Tauchnitz:

Wenn aber eine Anlage nicht modular aufgebaut ist, wird es schwerfallen, diese Daten auszuwerten. Wurde beim Design keine Logik berücksichtigt, die mir sagt: Dieses Ventil ist Bestandteil der Funktion Temperieren, – dann habe ich nur Spaghetti-Code. Und in dem kann ich keine logischen Zusammenhänge finden. Industrie 4.0 und die Modularität ermöglichen es uns, Schätze zu heben, die konzeptionell seit 20 Jahren da liegen. Beispielsweise können Anwender zukünftig ohne jeden Aufwand in ihrer Engineering-Datenbank alle Objekte des Typs Wärmetauscher suchen und ihren Zustand ermitteln. Für null Euro. Wir werden künftig auch ohne Probleme Regelungen und damit unsere Prozesse verbessern. Die Modularität schafft die Basis, um die Früchte zu ernten – und daraus resultiert ihre wirtschaftliche Bedeutung.

Namur und ZVEI machen jetzt gemeinsam einen großen Schritt zur Standardisierung der modularen Automatisierung. Wann ist dieser Schritt vollzogen?

Hempen:

Bis zur nächsten Namur-Hauptsitzung im November 2016 hoffe ich, dass wir rund 90 Prozent des Standards erreicht haben, denn derzeit arbeiten vier Arbeitskreise parallel daran – und das sehr intensiv.

Und wie wird es weitergehen?

Hempen:

Parallel zur Standardisierung muss es vordringlich darum gehen, bei Endkunden, Anlagenbauern und Systemintegratoren Akzeptanz zu schaffen. Und das in den wichtigen Re­gionen in Europa, Nordamerika und Asien. Überall dort müssen wir den Boden für die Normierung bereiten, wenn wir nicht irgendwann gegen einen zweiten Standard ankämpfen wollen.

Die standardisierte Lösung wird wohl am Ende nicht den Wago-Konzeptnamen Dima tragen. Dazu sind zu viele Firmen beteiligt. Bedauern Sie das, Herr Hempen?

Hempen:

Der Vierradantrieb heißt auch nicht überall Quattro. Aber Audi hat den Namen gut verankert. Am Ende hängt es von Wago ab, ob jeder beim MTP gleich an Dima denkt oder nicht.

Mal abgesehen vom Namen: Geht im Rahmen der Standardisierung etwas vom ursprünglichen Dima-Gedanken verloren?

Hempen:

Nach eineinhalb Jahren Spezifikationsarbeit kann ich sagen: Nein, ganz im Gegenteil. Es kommen viele neue Aspekte durch die Gemeinschaft, die sich da einbringt, dazu.

Wie oft haben Sie beide sich zur modularen Automation bereits ausgetauscht?

Hempen:

Immer, wenn wir uns trafen. Bei der Namur-Hauptsitzung, bei AKs, auf Messen. Fünfzehn Mal bestimmt.

Wäre ich Psychologe, würde ich jetzt fragen: „Was hat das mit Ihnen gemacht?“

Tauchnitz:

Mich hat es sehr fröhlich gemacht. Wenn eine Idee im Raum steht und es eine Firma gibt, die sagt: „Wir realisieren diese Idee“, dann find ich das prima. Das ist für die Idee gut, das ist für die Firma gut und es ist für meine Branche gut.

Hempen:

Bei mir schafft es die Zufriedenheit, bei der Arbeit an dieser Idee nicht nur technologische Partner, sondern auch technologische Freunde gefunden zu haben. Wir werden noch einen langen Atem brauchen, bis sich das Konzept der modularen Automation in alle Bereiche ausbreitet. Aber nicht der Anfang wird belohnt, sondern das Durchhalten.

Bildergalerie

  • „2016 realisieren wir mindestens drei Projekte mit modularer Automation", sagt Ulrich Hempen von Wago.

    „2016 realisieren wir mindestens drei Projekte mit modularer Automation", sagt Ulrich Hempen von Wago.

    Bild: Markus Hintzen

  • Thomas Tauchnitz fordert von Ingenieuren „den Ehrgeiz, Module intelligent zu koppeln, statt immer wieder das Rad neu zu erfinden.“

    Thomas Tauchnitz fordert von Ingenieuren „den Ehrgeiz, Module intelligent zu koppeln, statt immer wieder das Rad neu zu erfinden.“

    Bild: Markus Hintzen

  • „Großanlagenbauer wollen modularisieren." (Ulrich Hempen, r.) ... „Sie haben das gleiche Integrationsproblem wie wir als Endanwender." (Thomas Tauchnitz, l.)

    „Großanlagenbauer wollen modularisieren." (Ulrich Hempen, r.) ... „Sie haben das gleiche Integrationsproblem wie wir als Endanwender." (Thomas Tauchnitz, l.)

    Bild: Markus Hintzen

  • Thomas Tauchnitz, Sanofi Aventis (l.): „Wurde eine Anlage nicht modular automatisiert, habe ich nur Spaghetti-Code. In dem kann ich keine logischen Zusammenhänge für Industrie 4.0 finden.“

    Thomas Tauchnitz, Sanofi Aventis (l.): „Wurde eine Anlage nicht modular automatisiert, habe ich nur Spaghetti-Code. In dem kann ich keine logischen Zusammenhänge für Industrie 4.0 finden.“

    Bild: Markus Hintzen

  • Ulrich Hempen, Wago: „Am Ende hängt es von Wago ab, ob jeder beim MTP an Dima denkt oder nicht."

    Ulrich Hempen, Wago: „Am Ende hängt es von Wago ab, ob jeder beim MTP an Dima denkt oder nicht."

    Bild: Markus Hintzen

Verwandte Artikel