Smart Traffic & Mobility Neue Werkzeuge braucht das Land!

08.08.2014

Die Entwicklungszeiten für neue Fahrzeuge sollen sich in den kommenden Jahren noch einmal halbieren, gleichzeitig steigt der Zeitbedarf, um hochautomatisierte Fahrfunktionen zu testen. Sitzt die Automobilindustrie in einer Falle?

Fast immer ist der Mensch der Schuldige: 93,5 % aller Unfälle werden laut Audi-Entwicklungschef Ulrich Hackenberg durch menschliches Fehlverhalten ausgelöst. Nur 0,7 % aller Kollisionen sind auf technisches Versagen zurückzuführen. Also sei das hochautomatisierte Fahren ein zwingender Schritt. „Etwas nicht zu tun, was technisch eigentlich möglich ist, werden unsere Kunden auf Dauer nicht akzeptieren“, so Hackenberg.

Er steht damit nicht allein: Alle Premiumhersteller liefern sich derzeit einen erbitterten Kampf auf dem Weg zum selbstfahrenden Auto. Was technisch schon möglich ist, zeigen Versuche mit Prototypen auf deutschen, schwedischen und amerikanischen Autobahnen. Allerdings: Bei den Versuchen sitzen stets geschulte Testfahrer, oft sogar die Entwicklungsingenieure selbst, im Cockpit und überwachen die einwandfreie Funktion der Maschine.

Der Schritt vom überwachten Prototypen zum serienreifen Produkt ist beim automatisierten Fahren größer als bei jeder anderen elektronischen Funktion, die im Lauf der Jahre ihren Weg ins Auto gefunden hat. Der Grund: Jede Funktion muss vor Serienanlauf validiert werden. Für Ingenieure an sich nichts ungewöhnliches, dafür existieren heute sowohl etablierte Werkzeuge, etwa für die Simulation der Eingangsgrößen, als auch Standards, die von der gesamten Automobilindustrie anerkannt werden. Die Tests im Fahrzeug dienen später nur noch der Bestätigung und teilweise der Auslegung auf eine positive Fahrerwahrnehmung.

Herausforderung Testdauer

Dennoch steht die Branche vor einer gewaltigen Herausforderung, die Hans-Peter Hübner von Bosch sogar quantifiziert: Für einen Abstandsregeltempomaten reichen 1000 Stunden Testzeit. Bei einem Autopiloten, der vollständig autonom durch Innenstädte fährt, wären hingegen bis zur einer Milliarde Teststunden notwendig – etwas mehr als 100.000 Jahre. Zumindest, wenn autonome Fahrfunktionen genauso abgesichert werden sollen wie heutige Bordelektronik. Selbst große Entwicklungsabteilungen wären damit völlig überfordert. „Daher steht der Autopilot auch noch in den Sternen“, meint Hübner. „Wenn überhaupt sehen wir so etwas nach dem Jahr 2025.“

Was aber macht Google dann anders? Der IT-Gigant aus dem Sillicon Valley will in fünf Jahren die ersten autonomen Taxis einsetzen – im urbanen Verkehr. „Die trauen sich einfach mehr als wir“, sagt ein deutscher Autoelektroniker, der ungenannt bleiben will. „Aber die haben auch nicht so viel zu verlieren.“ Tatsächlich könnte ein einziger spektakulärer Unfall eines selbstfahrenden Autos den Ruf einer Marke auf viele Jahre beschädigen. Daher gehen die Entwickler den Weg zum hochautomatisierten Fahren auch schrittweise voran. Audi beispielsweise will noch in diesem Jahrzehnt automatisch einparken und auf Autobahnen bis 60 km/h hochautomatisiert fahren.

Google das Feld überlassen?

Doch auch solche Funktionen verursachen schon hohe Entwicklungsaufwendungen. Und Google das Feld überlassen will man sowieso nicht. Daher wird es notwendig, parallel zu der eigentlichen Technik des automatisierten Fahrens die Entwicklungssystematik und -verfahren zu überdenken. Bei der Systematik kann ein ganzheitlicher Systemansatz, wie er in der Luftfahrtbranche üblich ist, eventuell helfen (siehe Beitrag der ESG in dieser Ausgabe auf Seite 42). „Wir sollten das Know-how der Flugzeugindustrie nutzen“, meint auch Hübner.

Jedoch es gilt auch, die Testverfahren auf allen Ebenen weiterzuentwickeln und die Validierung noch stärker als bisher von der Straße in den Computer zu verlagern. Die Basis dafür existiert bereits. So arbeitet das Paderborner Unternehmen dSpace seit vier Jahren an einer geschlossenen Toolkette für Fahrerassistenzsysteme, einer Vorstufe zum automatisierten Fahren. Derzeit wird sie um eine Simulation der Fußgänger­erkennung erweitert. Was so einfach klingt, ist höchst komplex. Zunächst müssen nämlich einzelne Modelle erstellt werden. Dann müssen Testszenarien mit hoher Komplexität programmiert werden. Für die eigentlichen Tests liegt zwar mit „Design of Experiments“ (DOE) eine etablierte Methodik vor. Das DOE-Verfahren bedingt aber, dass man die Eintrittswahrscheinlichkeiten für bestimmte Parameter definiert – und die dürften für reale Verkehrssituationen nicht bekannt sein.

Hoffnungslos ist die Situation dennoch nicht. Denn es stehen immer mehr Daten aus der realen Welt zur Verfügung, weil moderne Fahrzeuge über die für automatisiertes Fahren notwendige Sensorik – Videokameras zum Beispiel – teilweise schon verfügen. Nun müsste es nur noch möglich werden, eine Art „Play back“ aus der realen Welt herzustellen. Dies scheitert momentan vor allem an den enormen Datenmengen, die weder gespeichert noch übertragen werden können. Die Verarbeitung großer Datenmengen hingegen stellt kein Hindernis mehr dar, die Technik des verteilten Rechnens auf parallel geschalteten Computern ist ausgereift.

Driver in the Loop

Ein Faktor, der den Automobilentwicklern Kopfzerbrechen bereitet, ist der Mensch selbst. Denn auf absehbare Zeit werden es alle automatisierten Fahrzeuge dem Fahrer erlauben, jederzeit ins Geschehen einzugreifen. Dafür, wie Mensch und Auto unter den Bedingungen des autonomen Fahrens interagieren, liegen keine Erfahrungswerte vor. „Wir müssen von Hardware-in-the-Loop zum Driver-in-the-Loop kommen“, schlägt Tino Schulze von dSpace vor. Schon jetzt bietet das Unternehmen Prüfstände an, die – teilweise über echte Komponenten wie die Lenkung – die Fahrt rein virtueller Prototypen ermöglichen. Zudem soll das Erstellen von Testszenarien ab Jahresende per „Drag and Drop“ möglich sein. Wie aufwendig die Modellierung der Testverfahren ist, schildert Schulze anhand eines Beispiels: Es sei eine konkrete Lastenheftanforderung, dass auch in Burkas (Ganzkörperschleier) verhüllte Menschen als solche zu erkennen seien.

Neben der Detailarbeit an einzelnen Modellen und Verfahren gilt es, Testverfahren immer weiter zu vernetzen. Ein wichtiges und überraschenderweise noch nicht zur Gänze gelöstes Problem ist dabei, die Daten zwischen verschiedenen Stufen der Testpyramide zu übertragen. Ein Fernziel der Entwickler lautet daher, ein umfassendes Modell der gesamten Fahrzeugelektrik und -elektronik zur Verfügung zu stellen, das für reine Softwaretests genauso dienen kann wie für Hardware-in-the-Loop-Simulationen. Der Weg dorthin führt über viele kleine Fortschritte. Schulze ist optimistisch: „Simulation wird weder heute noch in Zukunft alle Fälle abdecken können.“ Seine Botschaft: „Die Testkilometer werden nicht abnehmen, aber sie steigen auch nicht exponentiell.“

Tests im großen Fahrsimulator

Vielleicht wird der eine oder andere Testkilometer künftig auf großen Fahrsimulatoren getätigt, wie sie das Forschungsinstitut FKFS in Stuttgart betreibt. Im Unterschied zu den kleinen Simulatoren bieten sie dem menschlichen Fahrer einen realistischen Fahreindruck. Der Fahrer sitzt in einem realen Auto, nur die Umgebung wird mit hoher Grafikauflösung simuliert. Längs- und Querbeschleunigung sind im „Popometer“ zu spüren, sogar der Motorsound kann täuschend echt imitiert werden. Vernetzt man einen solchen, freilich millionenschweren Prüfstand mit realen Messdaten, sind die Reaktionen eines menschlichen Fahrers vermutlich sehr nah an der Realität – und damit das Ergebnis der gesamten Simulation.

Die Fahrt in eine automatisierte Zukunft ist auch ein Weg in neue Entwicklungsmethoden und -werkzeuge. Nur so ist trotz steigender Komplexität das Ziel zu erreichen, das der Entwicklungsvorstand eines deutschen Herstellers kürzlich ausgab: Die Zeit von der Lastenheftfreigabe bis zum Produktionsstart soll bis 2020 um die Hälfte sinken – auf 20 Monate. Für 100.000 Jahre Test ist da keine Zeit. Und 50.000 Testfahrer, auf die man diese Aufgabe verteilen könnte, will auch kein Autohersteller beschäftigen.

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