Mensch-Maschine-Kommunikation Mobil mehr sehen, sicher entscheiden

Bild: isitsharp
15.05.2015

Absolut sicher ein Abseits! Über dieses Urteil brauchen sich Fußballfans nicht mehr zu streiten. Eine eingeblendete Linie am Bildschirm sorgt für Eindeutigkeit. Zu Hause und selbst im Stadion auf den Zuschauerrängen, denn Smartphones und Tablet-Computer sind allgegenwärtig. Auch in der industriellen Anwendung kann erweiterte Realität (Augmented Reality) in Verbindung mit mobilen Datenkonzepten mehr Effizienz und Sicherheit bringen.

Speicherplatz ist in modernen Computersystemen längst kein limitierender Faktor mehr. Dennoch ist es ineffizient, große Datenbestände dezentral auf vielen Clientrechnern individuell bereitzustellen und mit sich herumzutragen. Systematische Versionierung, Datensicherung und (mangelnde) Aktualität der Informationen werden dann rasch zum Problem.

Zentrale Speicherung und Datenpflege mit mobilem Zugriff von beliebigen Standorten aus sind der Königsweg, den auch Yokogawa im Rahmen der Mobile Solutions für die Prozessindustrie beschreitet. Das Rückgrat dieser Lösungen bildet ein Funknetzwerk – je nach Anforderung und örtlichen Gegebenheiten ein unternehmenseigenes WLAN (wireless local area network) oder ein kommerzielles Mobilfunknetz nach dem LTE- (4G)- oder einem künftigen, höheren Standard. Auch proprietäre Netze sind eine Option. Davon ausgehend können diverse Anwendungen realisiert werden, darunter:

  • Unterstützung der Betriebsmannschaft im Feld bei Installations-, Kontroll-, Wartungs- oder Instandhaltungsarbeiten

  • Bereitstellung von Echtzeit-Informationen auf mobilen Endgeräten für Entscheidungsträger im Betriebs- und Produktionsmanagement.

Anders als bei der Anbindung drahtloser Feldgeräte an ein Leitsystem nach dem ISA100-Wireless-Standard (Maschine-zu-Maschine-Kommunikation) dienen diese „Mobile Solutions“ also dem mobilen Mensch-Maschine-Dialog.

Wie spielen zentrale Datenquellen und
Augmented Reality Doppelpass?

Prinzipiell kann man alle Schnittstellen in der Automatisierungspyramide als Datenquelle nutzen; hinzu kommt ein Dokumentenarchiv. So wird es möglich, der Betriebsmannschaft und dem Management innovative, neue Dienste anzubieten. Dazu gehören etwa der Zugang zu Handbüchern, Betriebs- und Wartungsanweisungen oder Sicherheitsdatenblättern auf mobilen Endgeräten, Möglichkeiten der Dokumentation und Verifizierung vor Ort mit Texten, Fotos und/oder Videosequenzen sowie der papierlosen Erfassung von Ereignissen, der Auslösung und Abarbeitung von Workflows.

Besonders der Einsatz von Augmented Reality (AR) verspricht vielfältige Vorteile. Was jedem Fußballfan längst als eingeblendete Torentfernung, als Tor- oder Abseitslinie zur Information beziehungsweise Verifizierung vertraut ist, hält inzwischen auch Einzug in der Prozessindustrie. Dort erleichtert AR auf einem Tablet-PC zum Beispiel das Auffinden und die eindeutige Identifikation von Anlagenkomponenten oder das komfortable, übersichtliche Auslesen von Gerätedaten jenseits der oft kleinen oder schwer erreichbaren Gerätedisplays. Auch Kalibrierdaten, Messbereichs- und Statusinformationen oder Alarme stehen so überall und stets aktuell zur Verfügung. Schon heute sind viele dieser Informationen auch mit dem Smartphone abrufbar, etwa bei Betriebsbesprechungen oder – je nach Entfernung und Netztechnologie – auf dem Heimweg oder am heimischen Schreibtisch des Betriebsleiters. Markus Oymann, Network Security Engineer bei Yokogawa, erläutert: „Mithilfe der neuen Technik lassen sich Workflows, etwa für einen Wartungseinsatz, entscheidend vereinfachen und damit beschleunigen. So steigt die Verfügbarkeit nicht nur der einzelnen Komponente, sondern unter Umständen auch der Gesamtanlage.“

Wie schafft man Akzeptanz bei 
Anlagenbedienern?

Drahtlose Kommunikation und erweiterte Realität bieten Arbeitserleichterung und mehr Sicherheit, erfordern jedoch bisweilen ein Umdenken bezüglich der Gestaltung von Arbeitsabläufen. Selbst wenn der betriebliche Nutzen unbestritten ist, muss doch auch der Benutzer individuell motiviert werden, die neuen Möglichkeiten zu nutzen beziehungsweise sein Nutzungsverhalten anzupassen. So kann eine Direkteingabe von Auffälligkeiten in ein Mobilsystem bei Kontrollgängen nur dann zeitsparend und effizienzsteigernd wirken, wenn sie tatsächlich direkt vor Ort erfolgt und nicht erst später von einem Meldezettel abgetippt wird. Touchscreen-fähige Arbeitshandschuhe mit elektrisch leitfähigen Bereichen an den Fingerkuppen erlauben komfortables Arbeiten auch in der Kälte oder dort, wo Handschuhe Pflicht sind.

Dank der ständig zunehmenden Verbreitung von Touchscreens im Alltag werden die Hemmschwellen immer niedriger, sind gerade bei älteren Mitarbeitern aber immer noch anzutreffen. Training und betriebliche Anreize, etwa ein (erwünschtes) Surfen im Web via Touchscreen im Pausenraum, können helfen, Vorbehalte abzubauen.

Welche Erfahrungen macht CF Carbons?

Ein Pilotprojekt, das Yokogawa im Industriepark Höchst bei CF Carbons, einem Gemeinschaftsunternehmen von Akzo Nobel Industrial Chemicals und Fluorchemie Frankfurt, im Frühjahr 2014 durchgeführt hat, unterstreicht den Nutzen derartiger Funklösungen. „Schon auf der Achema 2012 zeigte sich das Unternehmen interessiert an unserer Augmented-Reality-Demonstration“, berichtet Oymann.

In einem Betrieb zur Herstellung des teilhalogenierten Polytetrafluorethylen (PTFE)-Vorprodukts Difluormonochlormethan sollten detaillierte, Tag-spezifische und integrierte Statusinformationen (KPIs) sowohl dem Betriebs- und Wartungspersonal als auch dem Management zur Verfügung gestellt werden. Dazu wurde zunächst im Oktober 2013 im Zuge eines Wireless Survey eine geeignete WLAN-Infrastruktur konzipiert und eingerichtet. Insgesamt fünf Zugangspunkte auf den einzelnen Ebenen des Betriebsgebäudes stellen eine zuverlässige Netzabdeckung im Bereich aller betrachteten Komponenten sicher. Ein anschließendes Sicherheitsaudit sorgte dafür, dass bei der Einbindung des Drahtlos-Systems in die betriebliche IT-Infrastruktur alle Sicherheitsanforderungen des Betreibers und aktuelle Standards erfüllt wurden. Im Zuge dieses Audits werden zum Beispiel Firewall-Konfigurationen, aber auch Berechtigungskonzepte, etwa für den rollenbasierten Zugriff auf Informationen, festgelegt.

In das System wurden dann – jeweils durch einmalige Registrierung in der Datenbank der zugehörigen Middleware – insgesamt mehr als 1.000 Komponenten (Aggregate, Sensoren, Aktoren) eingebunden, darunter etwa 450 Analoggeräte. Alle Komponenten waren beziehungsweise wurden dabei mit einer dualen Tag-Identifikation ausgerüstet. Neben einer Klartext-Beschriftung, die via OCR (Optical Character Recognition) erfasst werden kann, sind die Schilder auch mit einem NFC-Tag (Near Field Communication) ausgestattet. Oyman erklärt hierzu: „NFC bringt vor allem dann Vorteile, wenn ein Gerät an einem schlecht beleuchteten Standort installiert ist oder die Tag-Beschriftung beispielsweise verschmutzt und daher schlecht lesbar ist. Verwechslungen im Feld lassen sich so jedenfalls fast vollständig ausschließen.“ Die inzwischen weit verbreiteten QR-Codes sind in chemischen Produktionsanlagen eher weniger geeignet, weil schon eine geringe Verschmutzung oder Beschädigung die Lesbarkeit stark beeinträchtigt.

Wie sind Quellen aus Drittsystemen nutzbar?

Als Quelle für die Prozessdaten wurde das im Jahre 2011 installierte Yokogawa-Prozessleitsystem Centum VP 4 genutzt. Prinzipiell kann die Anbindung aber an jedes beliebige Leitsystem via OPC realisiert werden. Zusätzlich benötigte Daten, etwa Dokumente im pdf-Format, werden direkt auf dem sogenannten BIS VP (Backhaul Information Server VigilantPlant), der zentralen Middleware-Komponente, vorgehalten. Dieser ist sowohl vom Leitsystem als auch in Richtung der mobilen Endgeräte durch Firewalls separiert.

Die Komponenten des Mobilsystems arbeiten rückwirkungsfrei bezüglich des Leitsystems, was hauptsächlich der Informationssicherheit geschuldet ist. Oyman empfiehlt diese Konfiguration ausdrücklich, „aus Sicherheitsgründen, auch wenn technisch durchaus eine bidirektionale Kommunikation mit dem Leitsystem möglich wäre.“ Grundsätzlich funktionieren die Mobile Solutions plattformunabhängig. Der Zugriff auf den BIS VP erfolgt bei CF Carbons via Wi-Fi-zertifiziertem WLAN-Netz von insgesamt fünf Tablet-PCs aus. Im Pilotversuch wurden Geräte aus dem Consumer-Bereich vom Typ Nexus 7 verwendet. Drei dieser Geräte stehen in der Leitwarte ständig in ihren induktiven Ladeschalen zum Einsatz bereit. Zusätzlich können sowohl Daten als auch grafische Informationen vom Betriebsleiter über ein Smartphone mit HD-Display abgerufen werden. Plant-Manager Harald Werner verdeutlicht: „So kann ich zum Beispiel kritische Parameter bei Anfahrprozessen auch dann im Auge behalten, wenn ich nicht in der Leitwarte bin.“

Bis zu 40 Prozent Zeitersparnis dank Tablet

Nach einer etwa sechswöchigen Testphase im Frühjahr 2014 zeigt sich Werner zufrieden: „Unsere Erwartungen haben sich voll erfüllt. Die drahtlose Kommunikation funktioniert zuverlässig und die Tablets sind zum Beispiel bei Kalibrierarbeiten im Feld eine wertvolle Hilfe, weil die Mitarbeiter Parameter komfortabel in Echtzeit überprüfen können.“ Je nach Aufgabe verringerte sich dabei der gesamte Zeitbedarf um etwa ein Fünftel, wenn ein Techniker im Feld per Sprechfunk mit einem Operator in der Leitwarte zusammenarbeitete. Konnte der Techniker im Feld die Aufgabe allein erledigen, lag die Zeit­ersparnis sogar bei über 40 Prozent, jeweils im Vergleich zu einem Einsatz ohne drahtloses Endgerät. Dank des erweiterten Informationsangebots im Feld via Tablet-PC sind solche „Alleingänge“ inzwischen die Regel.

Ihr geringes Gewicht von nur knapp 300 g, einfache Handhabung auch mit Handschuhen und hohe Anzeigequalität sprechen für die Tablet-PCs. Eine spezielle, mit einem Gurt verbundene Halterung sorgt dafür, dass das Gerät auch bei Nichtgebrauch sicher „am Mann“ bleibt und dieser trotzdem die Hände frei hat. Bei Kontrollgängen im Betrieb, die alle vier Stunden vorgeschrieben sind, verzichten die meisten Mitarbeiter derzeit noch auf den Tablet-PC. EMR-Work Planner Michael Seel ist aber überzeugt, dass auch hier in Verbindung mit geeigneten, durchgängigen Workflows noch erhebliche Effizienz­reserven schlummern. „Die Einsatzhäufigkeit der Tablets schwankt derzeit noch von Schicht zu Schicht“, stellt er fest und ergänzt: „Woran das liegt, wollen wir durch Befragungen noch genauer ermitteln.“

Auch nach Ende der Testphase perfektioniert Yokogawa gemeinsam mit der Betriebsmannschaft die implementierte Lösung weiter. „Wir nutzen die Zeit bis zur Markteinführung für Verbesserungen und um weitere Module zu entwickeln und zu ergänzen. Schließlich wollen wir möglichst viele industrie­typische Einsatzszenarien abdecken“, beschreibt Oymann das weitere Vorgehen.

So wurden bereits die Anzeigemöglichkeiten für Alarme erweitert. Jetzt können nicht nur Alarme des gerade betrachteten Geräts, sondern die jeweils aktuelle Alarmsituation der Gesamtanlage mobil abgerufen werden, was Fehlerdiagnosen deutlich erleichtern kann. Auch die grafische Benutzeroberfläche wurde inzwischen in mehreren Schritten noch besser an die Nutzeranforderungen angepasst.

Im Zusammenhang mit der bevorstehenden Einführung eines Plant-Asset-Management-Systems im Betrieb ist geplant, die Möglichkeit zur zustandsorientierten Überwachung (Condition Based Monitoring) betriebskritischer Pumpen via AR zu integrieren. So kann auch die Funktion nicht intelligenter Komponenten im Feld besser erfasst und kontrolliert werden.

Eine vertikale Integration über die MES-Ebene hinaus bis in die ERP-Systeme ist ebenfalls möglich und könnte zum Beispiel das Ersatzteilmanagement bis hin zur Bestandsverwaltung direkt vom mobilen Endgerät aus zugänglich machen. Eine solche Integration mit SAP PM (Plant Maintenance) und weiteren Applikationen wird Yokogawa beispielhaft auf der Achema 2015 vorstellen.

Bildergalerie

  • Schema der Mobile-Solution-­Installation beim AkzoNobel-Joint-Venture CF Carbons: Das Pilotprojekt im Frühjahr 2014 bestätigt den Nutzen von Augmented Reality für Betrieb und Wartung.

    Schema der Mobile-Solution-­Installation beim AkzoNobel-Joint-Venture CF Carbons: Das Pilotprojekt im Frühjahr 2014 bestätigt den Nutzen von Augmented Reality für Betrieb und Wartung.

  • Augmented Reality: Übersicht und Detailinformation zu jedem Tag. Bei CF Carbons können die Techniker im Feld durch diese Unterstützung bis zu 40 Prozent Zeit sparen.

    Augmented Reality: Übersicht und Detailinformation zu jedem Tag. Bei CF Carbons können die Techniker im Feld durch diese Unterstützung bis zu 40 Prozent Zeit sparen.

    Bild: Yokogawa

  • Mobilsystem beim Kontrollgang: Zeitsparend wirken sie nur, wenn der Instandhalter vor Ort alle Auffälligkeiten sofort eingeben kann. Touchscreen-fähige Arbeitshandschuhe sind dazu nötig.

    Mobilsystem beim Kontrollgang: Zeitsparend wirken sie nur, wenn der Instandhalter vor Ort alle Auffälligkeiten sofort eingeben kann. Touchscreen-fähige Arbeitshandschuhe sind dazu nötig.

    Bild: Yokogawa

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