Stadtentwicklung Lücken in der Stadt sinnvoll nutzen

Seoul: In der Megastadt sind Restflächen meist sehr zerstückelt und kleinteilig, sodass sie sich nicht für größere zusammenhängende neue Nutzungen anbieten.

Bild: KIT
02.11.2015

Karlsruhe und Seoul stehen im Zentrum eines deutsch-koreanischen Forschungsprojekts. Ziel ist, ungenutzten Grundstücken und Gebäuden eine konkrete Funktion zu geben.

Urban Voids, das sind alle Orte einer Stadt, die hinsichtlich ihrer Funktion und Ausgestaltung nicht abschließend festgelegt sind: Reserveflächen, Brachen, Abstandsflächen, Gebäudeleerstände, belastete oder ungenutzte Grundstücke. Ihnen gemein ist, dass sie im System Stadt keine konkrete Funktion erfüllen. Im Rahmen des deutsch-koreanischen Forschungsprojekts „Urban Voids“ suchen Wissenschaftler des KITs (Karlsruher Institut für Technologie) nun nach Möglichkeiten, diesen „Lücken in der Stadt“ einen neuen Sinn zu geben. Dabei konzentrieren sie ihre Suche exemplarisch auf zwei sehr unterschiedliche Orte: Karlsruhe und die Megacity Seoul.

Kerstin Gothe, die das Projekt zusammen mit Phillip Dechow am KIT leitet, erklärt: „In Karlsruhe – wie übrigens in vielen anderen deutschen Städten auch – finden wir tendenziell eher größere zusammenhängende Voids. So gibt es beispielsweise entlang vieler Einfallstraßen in Karlsruhe breite Streifen als Abstandsgrün mit Lärmschutzwall.“ Diese seien zwar nach bisheriger Einschätzung nicht nutzbar, nach einer Neubewertung erwiesen sich viele von ihnen aber als Potenzialflächen für verschiedenste Nutzungen, sogar als mögliches Bauland für kleinere Wohnquartiere, „sofern – was möglich ist – auf die Schallbelastung durch entsprechende bauliche Maßnahmen reagiert wird“, so Gothe. In Karlsruhe konzentriere sich die Untersuchung daher darauf, größere, heute kaum beachtete oder als unnutzbar geltende Potenzialflächen zu identifizieren und Möglichkeiten der Nutzung durch Studien darzustellen.

Urban Voids in Seoul

Anders sei die Situation der Voids in Seoul. „Hier sind die Restflächen meist sehr zerstückelt und kleinteilig, so dass sie sich nicht für größere zusammenhängende neue Nutzungen anbieten“, so Gothe. Andererseits befänden sich die Voids in Seoul oftmals in Quartieren mit starken Defiziten hinsichtlich der Lebensqualität und der ökologischen Situation. „Hier erweisen sich die Voids als eine Art Flächenreservoir, das zur ökologischen Erneuerung und zur Aufwertung des Quartiers eingesetzt werden kann.“ Beispielsweise könnten die Voids zur Begrünung des Quartiers eingesetzt werden, was positive Effekte auf das Mikroklima, die Wasserwirtschaft, die Luftqualität, die Lebensqualität und Gesundheit sowie die Biodiversität hätte. Manche Voids könnten eine wichtige Rolle bei der energetischen Sanierung von Gebäuden spielen, etwa indem sie Pufferräume aufnehmen, die die Dämmung des Hauses verbessern oder hier Heizsysteme untergebracht werden können, die mehr als ein Gebäude versorgen und damit eine höhere Effizienz aufweisen.

Paradigmenwechsel in der „Stadt ohne Gedächtnis“

In Seoul erweisen sich die Voids somit als ein wichtiger Baustein für eine kleinteilige Quartierserneuerung. Und diese steht mehr denn je im Fokus der südkoreanischen Stadtplaner. „Die Megacity Seoul erlebt derzeit einen Paradigmenwechsel in der Stadterneuerung“, sagt Philipp Dechow, der zwei Jahre als Gastprofessor in der Südkoreanischen Hauptstadt gelebt und gearbeitet hat. „Das bisherige System der Flächensanierung, bei dem ganze Stadtquartiere abgerissen werden, um neuen Hochhaussiedlungen Platz zu machen, erweist sich zunehmend als nicht mehr zeitgemäß und nachhaltig.“ Zum einen stößt das Finanzierungsmodell dieser Art der Stadterneuerung, das auf einer stetigen Erhöhung der baulichen Dichte basiert, an seine Grenzen – schon heute leben in Seoul etwa zehn Millionen Menschen auf einer Fläche in der Größe von Hamburg mit etwa 1,76 Millionen Einwohnern. Zum anderen wächst in der Bevölkerung der Widerstand gegen eine Erneuerungspolitik, durch die vorhandene soziale und funktionale Strukturen sowie alle historischen Spuren vernichtet werden. Einige schon beschlossene Flächensanierungen von Quartieren wurden mittlerweile gestoppt, neue Vorhaben der Flächensanierung ausgesetzt. Doch viele der bestehenden Bauten haben erhebliche Mängel in energetischer Hinsicht und sind sanierungsbedürftig. „Die Stadtregierung hat bereits neue Sanierungsprogramme aufgelegt, die eine behutsamere Form der Quartierserneuerung unter Erhalt der vorhandenen Strukturen fördern soll“, erläutert Dechow. „Da solche Verfahren jedoch in Korea bislang kaum erprobt sind, sind die planerischen und bauwirtschaftlichen Strukturen auf eine solche ‚kleinteilige‘ Erneuerung nicht ausgerichtet.“

Living Lab und Bauausstellung

Daher ist es ein Ziel der deutsch-koreanischen Kooperation, gemeinsam und mit den Erfahrungen aus Karlsruhe neue Konzepte und Strategien für den neuen Weg in Seoul zu entwickeln – mit besonderem Fokus auf die Lücken – die Voids der Stadt. Ein großer Meilenstein, der derzeit im Rahmen des Projekts geplant wird, ist das Seoul LivingLab, das im April 2016 veranstaltet wird. Eingeladen sind Experten aus Korea und Deutschland, um mit Unterstützung ausgewählter Studierender aus beiden Ländern und gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern integrierte Erneuerungskonzepte für ein konkretes Quartier in Seoul zu erarbeiten.

Das Projekt „Urban Voids – Chancen für eine nachhaltige Stadtentwicklung“ ist Forschungkooperation zwischen KIT, SNU Seoul National University, ISA Internationales Stadtbauatelier Stuttgart/Peking/Seoul, gefördert durch das BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung und das koreanische Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Technologie.

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