Smart Traffic & Mobility Kritische Fahrsituationen automatisiert erkennen

Einfluss des Fahrers: Bewertung der Kritikalität anhand der
Fahrerreaktion.

11.09.2013

Große Datenmengen müssen ausgewertet werden, um die Wirkung von Fahrerassistenzsystemen zu bewerten. Das kostet viel Zeit. Schneller geht es mit einem automatisierten Prozess zum Erkennen von systemrelevanten Fahrsituationen.

Eine der wesentlichen Herausforderungen im Straßenverkehr ist, die Anzahl an Verkehrstoten zu reduzieren. Insgesamt sterben bei Unfällen weltweit jährlich mehr als 1,2 Millionen Menschen [1]. Um Lösungen zu identifizieren, starteten in Europa bereits verschiedene Initiativen, die sich damit und vor allem mit dem Verhindern von Unfällen beschäftigen. Ein Lösungsansatz sind Fahrerassistenzsysteme (FAS). Deren Wirkung wurde in den vergangenen Jahren vorrangig in Feldversuchen analysiert, wobei einige davon zum Beispiel in den USA bereits abgeschlossen sind [2, 3]. Ein wesentlicher Schritt beim Auswerten dieser Feldversuche ist, systemrelevante Fahrsituationen wie kritische Ereignisse und Fahrstreifenwechsel zu erkennen. In vorausgegangenen Feldversuchen wurden diese Fahrsituationen sowohl anhand von Fahrzeugdaten als auch von Videodaten detektiert [4, 5]. Mithilfe der Videodaten können die auf Basis der Fahrzeugdaten erkannten Situationen validiert werden. Die aufgezeichnete Datenmenge ist aufgrund der Anzahl der teilnehmenden Fahrzeuge und der Dauer des Experiments jedoch sehr hoch. Daraus resultiert eine lange Auswertezeit der Daten. Insbesondere das manuelle Auswerten aufgezeichneter Videodaten ist mit einem hohen Zeitaufwand verbunden. Um diesen Aufwand zu reduzieren, haben Wissenschaftler des Instituts für Kraftfahrzeuge der RWTH Aachen University (Ika) im Feldversuch „euroFOT“ (Field Operational Test, FOT) basierend auf Fahrzeugdaten unter anderem eine automatisierte Situationserkennung entwickelt. Diese durchsucht die Fahrzeugdaten nach bestimmten Mustern und Kombinationen verschiedener Bedingungen und spart damit wertvolle Zeit, erfordert aber gleichzeitig eine hohe Rechenleistung [6]. Für den Feldversuch kommen insgesamt etwa 1000 Fahrzeuge mit verschiedenen Fahrerassistenzsystemen zum Einsatz. Die Flotte wird von fünf Fahrzeugmanagementzentren (FMZ) koordiniert. Im FMZ German1 ist das Ika für die Betreuung einer Fahrzeugflotte von 200 Fahrzeugen verantwortlich, die sich aus 60 Nutzfahrzeugen (Nfz) von MAN, 100 Personenkraftwagen (Pkw) von Ford und 40 Pkw von VW zusammensetzt.

Situationen automatisiert erkennen

Ein entscheidender Prozess für eine kurze Auswertedauer ist das automatisierte Erkennen von systemrelevanten Fahrsituationen, auf deren Basis aufgetretene Ereignisse dann statistisch ausgewertet werden [7]. Eine wesentliche Herausforderung im German1-FMZ war, relevante Situationen ohne eine weitere Verifikation durch Videodaten zuverlässig zu erkennen.Die Auswertung von Testdaten innerhalb der fünfmonatigen Pilotphase hat gezeigt, dass der aus der Literatur entnommene Parametersatz zu einer großen Anzahl von Falscherkennungen führt. Dieser Parametersatz wurde zum Teil in verschiedenen bereits durchgeführten FOTs verwendet [2, 3]. Allerdings wurden bei diesen FOTs zusätzlich Videodaten zur Verifikation genutzt, sodass die Parameter häufig nur der Identifizierung möglicher relevanter Situationen dienten. Eine finale Bewertung dieser Situation erfolgte dann erst durch Auswerten entsprechender Videodaten. Für ein zuverlässigeres Erkennen der Situationen haben Ika-Wissenschaftler daher bereits innerhalb der Pilotphase von „euroFOT“ einige Fahrzeuge mit Videokameras ausgestattet, zirka 40 Stunden an Video- und CAN-Daten ausgewertet und den Erkennungsalgorithmus so iterativ optimiert. Damit konnte bereits im weiteren Verlauf der Pilotphase das Erkennen von Situationen signifikant verbessert werden.

Fahrdynamik und Abstandsverhalten

Die Situationserkennung unterscheidet zwischen kritischen Ereignissen aufgrund der Fahrdynamik und kritischen Ereignissen aufgrund des Abstandsverhaltens. Je nach Grenzwert können Kritikalitätsstufen von 1 bis 3 einer kritischen Situation ausgelöst werden. Kritische Ereignisse aufgrund der Fahrdynamik werden mithilfe der Längs- und Querbeschleunigung, Gierrate sowie den Statusinformationen des Antiblockiersystems (ABS) und des elektronischen Stabilitätsprogramms (ESP) detektiert. Zum Verbessern der Erkennung haben die Projektverantwortlichen zusätzlich Daten von Testfahrten mit 20 Probanden auf einer definierten Strecke untersucht und aus diesen Daten die Verteilung relevanter Messgrößen ermittelt - zum Beispiel die Querbeschleunigung für verschiedene Geschwindigkeiten in Normalfahrsituationen. Anschließend bestimmten sie die Grenzwerte für die Gefahrenstufen 1 und 2 auf Grundlage dieser Verteilungen. Die ermittelten Grenzwerte für die Gefahrenstufen 1 und 2 der Quer- und Längsbeschleunigung für Pkw und Nfz sind über den gesamten Geschwindigkeitsbereich in den Abbildungen oben dargestellt. Dieser wird allerdings nicht von allen Fahrzeugklassen genutzt. Die zweite Art kritischer Ereignisse wird auf Basis der Fahrzeuggeschwindigkeit, Zeitlücke (time headway, THW), Kollisionszeit (time to collision, TTC), Relativgeschwindigkeit und der Statusinformation des Bremslichts detektiert. Da in der Fahrzeugflotte nur die serienmäßige Fahrzeugumfeld-Sensorik verbaut ist, kann ausschließlich das Geschehen vor dem Fahrzeug erfasst werden. Zum Verbessern der Situationserkennung wird bei dieser Kategorie neben den relevanten Messgrößen zusätzlich die Fahrerreaktion berücksichtigt. Die Grenzwerte für die einzelnen Gefahrenstufen zum Erkennen von kritischen Ereignissen aufgrund des Abstandsverhaltens sind in der Tabelle auf Seite98 dargestellt.

Fahrerreaktion berücksichtigen

Die Idee zur Berücksichtigung der Fahrerreaktion ergab sich aus der Auswertung der Pilotdaten und aus Gesprächen mit den Testfahrern. Die Auswertung der Pilotdaten zeigte, dass ein Großteil der vom Algorithmus als kritisch eingestuften Situationen vom Fahrer als unkritisch bewertet wurden, da er sich der Situation vollkommen bewusst war und das Verhalten anderer Fahrer antizipierte. Bei Überholvorgängen zum Beispiel finden Annährungsvorgänge statt, bei denen die THW oder TTC kurzzeitig unter den definierten Grenzwert fällt. Dies kann aber vom Fahrer im Rahmen eines Überholvorgangs gewünscht sein, um diesen zügig abzuschließen. Gewöhnlich beobachtet der Fahrer auch die Situation vor dem vorausfahrenden Fahrzeug. Hierdurch kann er eine Prädiktion der Bewegung des Vorderfahrzeugs vornehmen. Auf dem CAN-Bus des Fahrzeugs sind hingegen nur die Informationen über das relevante Zielobjekt (vorausfahrendes Fahrzeug) verfügbar. Daher ist es möglich, dass der Fahrer und der Algorithmus zur Situationserkennung die gleiche Situation unterschiedlich interpretieren. Folglich müssen die fehlenden Informationen bei der Situationserkennung kompensiert werden. Eine Möglichkeit zur Kompensation ist die Berücksichtigung der Fahrerreaktion. Zur deren Bewertung werden die Längs- und Querbeschleunigung sowie die Statusinformation des Fahrtrichtungsanzeigers und des Bremslichtes über ein Zeitfenster von fünf Sekunden vor Beginn und eine Sekunde nach Ende der kritischen Situation betrachtet. Die Projektteilnehmer wählten diese Größen, da sie unabhängig sind von fahrzeugspezifischen Parametern wie zum Beispiel die Lenkübersetzung, die bei der Auswertung der Lenkungsaktivität Berücksichtigung finden müsste. In Abhängigkeit der Messgrößen erfolgt eine Auf- oder Abwertung der Kritikalität gemäß dem Flussdiagramm in der Abbildung oben auf dieser Seite.Ein Beispiel für ein kritisches Ereignis aufgrund des Abstandsverhaltens in der Pilotphase ist in der Abbildung oben dargestellt. Neben dem zeitlichen Verlauf der Längsbeschleunigung und der Zeitlücke (THW) ist auf der rechten Seite die Fahrzeuggeschwindigkeit aufgetragen. Das Ereignis tritt zu einem Zeitpunkt auf, bei dem die Relativgeschwindigkeit zum vorausfahrenden Fahrzeug 30km/h beträgt. Zunächst wird das kritische Ereignis als Stufe 1 erkannt, da eine hohe Relativgeschwindigkeit und eine kritische Zeitlücke von weniger als 0,5s vorliegen. Kurz darauf leitet der Fahrer eine starke Verzögerung ein, die einen Maximalwert von -6,9m/s² erreicht. Diese starke Fahrerreaktion führt zu einer Aufwertung der Gefahrenstufe auf Stufe 2.

Fehldetektionen signifikant reduziert

Durch Anpassen der Grenzwerte sowie Berücksichtigen der Fahrerreaktion konnte die Anzahl der Fehldetektionen von 75 Prozent bei reinem literaturbasiertem Parametersatz auf 3 Prozent, bei iterativ angepasstem Erkennungsalgorithmus reduziert werden (Tabelle S. 97). Dadurch reduzierte sich auch die Anzahl der erkannten kritischen Ereignisse. Die aktuelle Version des Algorithmus zum Erkennen von kritischen Ereignissen hat ihre Zuverlässigkeit im weiteren Verlauf der Pilotphase unter verschiedenen Bedingungen sowie für unterschiedliche Fahrzeugtypen und Fahrer unter Beweis gestellt und wird aktuell in mehreren FMZ in „euroFOT“ zur Auswertung verwendet.

Literatur

[1] N.N.: 2nd Global Status Report On Road Safety. Weltgesundheitsorganisation (WHO), 2012

[2] Dingus, T. A.; Klauer, S. G. et al.: The 100-Car Naturalistic Driving Study - Phase II-Results of the 100-Car Field Experiment. Springfield (VA), April 2006

[3] Sayer, J.R.; Bogard, S.E. et al.: Integrated Vehicle-Based Safety Systems heavy-truck field operational test key findings report. University of Michigan Transportation Research Institute (UMTRI), Ann Arbor (MI), August 2010

[4] Guo, F.; Hankey, J.: Modeling 100-Car Safety Events: A Case-Based Approach for Analyzing Naturalistic Driving Data. Virginia Tech Transportation Institute, Blacksburg (VA), 2009

[5] Olson, R. L.: Assessment of Drowsy-Related Critical Incidents and the 2004 Revised Hours-of-Service Regulations. Virginia Tech, Blacksburg (VA), 2008

[6] Benmimoun, M.; Küfen, J.: euroFOT - Optimised data retrieval process for a large scale FOT: manageable by automation? TRA Conference Europe, Juni 2010

[7] Benmimoun, M.; Fahrenkrog, F.: Automatisierte Situationserkennung zur Bewertung des Potenzials von Fahrerassistenzsystemen im Rahmen des Feldversuchs euroFOT. VDI/VW-Gemeinschaftstagung Fahrerassistenz und Integrierte Sicherheit, Wolfsburg, Oktober 2010

[8] Benmimoun, M.; Aust, M. L. et al.: Safety analysis method for assessing the impacts of advanced driver assistance systems within the European large scale field test euroFOT. 8th ITS European Congress, Lyon, Juni 2011

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