Industrial Communication Industrielle Netzwerke: Innovation ja, aber Disruption um jeden Preis?

Martin Rostan leitet die EtherCAT Technology Group seit ihrer Gründung 2003. Der Ingenieur der Luft- und Raumfahrttechnik beschäftigt sich seit 1992 mit Feldbustechnik: Auch zur Verbreitung von CANopen hat er maßgeblich beigetragen. Seit 1998 ist er bei Beckhoff tätig, wo er das Technologiemarketing verantwortet.

Bild: EtherCAT Technology Group
01.10.2020

„Disruptive Technologien sind Innovationen, die die Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie ersetzen oder diese vollständig vom Markt verdrängen und die Investitionen der bisher beherrschenden Marktteilnehmer obsolet machen“ – sagt Wikipedia, das ja selbst eine disruptive Technologie ist; da muss man nur die Lexika-Verlage fragen.

Martin Rostan ist mit diesem Beitrag im A&D-Kompendium 2020 als einer von 100 Machern der Automation vertreten. Alle Beiträge des A&D-Kompendiums finden Sie in unserer Rubrik Menschen .

Ich mag das Wort eigentlich nicht: Es steckt so viel Zerstörung drin, und so wenig Nachhaltigkeit. Und man kann den Eindruck gewinnen, als sei „Disruption“ ein Wert an sich: also das Zerschlagen um der Veränderung Willen.

Gerne auch disruptiv!

Vor einiger Zeit war ich bei einem Industrie-4.0-Zentrum zu Gast: Die Forscher waren stolz darauf, klassische SPS-Systeme durch „Cyber Physical Systems“ ersetzt zu haben, und die dazugehörigen Feldbusse und Industrial-Ethernet-Systeme durch TCP/IP basierte Protokolle. Die „Cyber Physical Systems“ entpuppten sich als Platinen mit Microcontroller und Ethernet-Schnittstelle, auf denen ein Betriebssystem installiert war und ein Programmcode ablief. Genau wie bei einer SPS auch – nur dass das Betriebssystem nicht echtzeitfähig war, in C statt in IEC 61131 programmiert wurde und dass die Kommunikation proprietär und sehr träge war, da TCP/IP basiert.

Ach ja, und der Code war auf mehrere CPUs verteilt und daher unübersichtlich und schlecht zu debuggen, Safety und Security standen noch nicht auf der Agenda und zur Bedienung wurden Tablets und Smartphones genutzt: „Bring your own device“. Ich mag mein Tablet übrigens sehr – musste es aber nach ein paar Jahren entsorgen, weil die zum mittlerweile veralteten Betriebssystem passenden Apps aus dem App-Store verschwunden waren.

Also: Innovation ja – das brauchen wir unbedingt! Wenn sich die Innovation dann als so bahnbrechend und vorteilhaft herausstellt, dass sie auch disruptiv ist – dann gerne auch das! Ich schreibe diesen Beitrag gerne am PC und nicht mit der Schreibmaschine.

Und auch EtherCAT hat aufgrund seiner Anwender-Vorteile zur Ablösung der klassischen Feldbusse beigetragen und zur Einstellung manch anderer Industrial-Ethernet-Technologien geführt. Aber wo andere durch neue inkompatible Versionen quasi „Disruption im eigenen Haus“ betrieben haben, da haben wir bei EtherCAT auf Stabilität gesetzt, bei gleichzeitig behutsamer und abwärtskompatibler Erweiterung.

Technologien sinnvoll nutzen

Die neueste Erweiterung von EtherCAT folgt diesem Muster: Mit EtherCAT G und EtherCAT G10 stellen wir besonders „datenhungrigen“ Geräten die gewünschte Bandbreite von bis zu 10 Gb/s zur Verfügung, ohne die Vielfalt existierender EtherCAT-Geräte obsolet zu machen.

Im Gegenteil: Dank der innovativen EtherCAT Branch Controller bleiben die meisten EtherCAT-Geräte ganz bewusst bei der robusteren 100-Mb/s-Übertragungsphysik und die Anwender profitieren dank der Parallelisierung dennoch von der noch deutlich weiter gesteigerten Netzwerkperformance.

Und auch unser TSN-Ansatz vermeidet, „Investitionen obsolet zu machen“: Statt EtherCAT durch TSN-Technologien auf links zu ziehen, werden wir TSN da nutzen, wo es hingehört: im Multiprotokoll-Ethernet-Netzwerk oberhalb der Steuerung. Und werden damit auch von hier aus den Echtzeit-Zugriff auf die Prozessdaten ermöglichen, ohne im schlechten Wortsinn disruptiv sein zu müssen.

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