Interview über künftige Mobilfunkstandards „6G kommt, um die Erwartungen von 5G zu erfüllen“

Dr.-Ing. Dr.-Ing. habil. Ivan Ndip ist seit fast 20 Jahren am Fraunhofer IZM und leitet seit 2014 die Abteilung RF & Smart Sensor Systems. Gleichzeitig lehrte er an der Fakultät Elektrotechnik und Informatik der TU Berlin, an der er mit der Auszeichnung „summa cum laude“ promovierte. Er hat an der BTU Cottbus-Senftenberg habilitiert.

Bild: Mika-Fotografie
12.01.2021

Bis zu 1.000 Gbit/s sollen sich mit dem Mobilfunkstandard 6G übertragen lassen. Aber 5G erlaubt doch bereits Echtzeitkommunikation, wozu brauchen wir dann noch 6G? Diesen und weitere Aspekte zur Entwicklung des 6G-Standards erklärt Ivan Ndip, Experte für Antennen und Hochfrequenzsysteme, im Interview.

Was bedeutet 6G?

6G ist die sechste Generation der Mobilkommunikation. Bei 5G reden wir über eine Datenrate von bis zu 20 Gbit/s und eine Latenz von circa einer Millisekunde. Mit 6G haben wir das ambitionierte Ziel, 1 Tbit/s und eine Latenz von circa 100 Mikrosekunden, also das 50-Fache der Datenrate und ein Zehntel der Latenz von 5G zu erreichen. Es gibt sehr viele Anwendungen im Bereich der Industrie 4.0, Medizin, des autonomen Fahrens, der Smart City und des Entertainments, die davon profitieren würden – aber eben auch große Herausforderungen, die erst einmal gelöst werden müssen.

5G soll bereits Echtzeitkommunikation ermöglichen, etwa für autonome Fahrzeuge. Wofür werden wir 6G brauchen?

Was ist das Ziel des autonomen Fahrens? Man möchte die Anzahl der Unfälle stark reduzieren. Autonomes Fahren ist vor allem ein kollektiver Aspekt. Was 5G erreichen wird, ist eine maximale Datenrate von circa 20 Gbit/s. Wenn ein Auto autonom fährt, muss es anderen Verkehrsteilnehmern seine Position in Echtzeit mitteilen, es muss Abstände messen und gleichzeitig 360 Grad umschauen können. Es muss auch die Straße sehr gut kennen und in der Lage sein, in die Ferne zu schauen, natürlich aber auch ganz nah und sehr präzise. Dafür braucht es Sensoren, die wir auch am Fraunhofer IZM entwickeln: eine Kombination aus Radar und Kamera. Diese Sensoren sammeln enorm viele Daten, die gleichzeitig geteilt werden müssen. Es müssen aber auch Up- und Downloads in Echtzeit erfolgen: So werden zum Beispiel Stadtpläne in sehr hoher Auflösung heruntergeladen. 20 Gbit/s reichen für all diese Prozesse bei Weitem nicht aus. Darüber hinaus müssen die Autos zuverlässig auf unvorhergesehene Umstände mit extrem geringer Verzögerung autonom reagieren. Daher ist neben den sehr hohen Datenraten gleichzeitig eine sehr kleine Latenz erforderlich. Die Spezifikationen von 5G ermöglichen es leider nicht, Infrastrukturen und Netze aufzubauen, die gleichzeitig Hunderte von Gbit/s und eine extrem niedrige Latenz gewährleisten. Daher sind wir der Meinung, dass mit 5G wahrscheinlich echtes autonomes Fahren gar nicht möglich sein wird. Dabei wissen wir noch nicht einmal, ob die Spezifikationen, die wir heute für 5G haben, überhaupt erfüllt werden. Die notwendige kollektive oder vernetze Intelligenz existiert noch nicht. 5G ermöglicht uns auch nicht, die Datenraten und Latenz, die hierfür notwendig sind. Deshalb brauchen wir 6G.

Für welche Bereiche ist 6G noch interessant?

Andere Anwendungen finden wir in der Telemedizin, zum Beispiel im Bereich der Tele-Chirurgie: Dann müsste beispielsweise der operierende Arzt nicht mehr vor Ort sein. So etwas realisiert man schon mit 5G, doch es gibt viele Einschränkungen durch die maximale Datenrate und Latenz, die mit 5G einhergehen. Dabei führen Roboter die Operationen durch, während der Arzt irgendwo anders ist und bestimmte Geräte steuert. Hierfür benutzt er einen ultrahochauflösenden Bildschirm oder ein Mixed-Reality-Headset, um mithilfe von 3D-Hologrammen genau zu sehen, was im Inneren des Körpers passiert. Er muss feinste Details erkennen können. Dafür braucht er Daten in Echtzeit und unkomprimiert mit einer Übertragungsrate von mehreren hundert Gbit/s bis über 1 Tbit/s sowie eine Latenz von weniger als einer Millisekunde. Das schafft 5G auf keinen Fall! 6G kommt, um die Erwartungen zu erfüllen, die 5G geweckt hat. 6G wird auch die Entwicklungen hochminiaturisierter, tragbarer medizinischer Sensoren, in Kleidung integrierter Sensoren sowie implantierbarer Sensoren ermöglichen, die eine kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter von gesunden und kranken Menschen realisieren können. Diese Sensoren könnten über ein sogenanntes 6G Terahertz Body Area Network miteinander vernetzt werden. Mithilfe der Hochgeschwindigkeits-6G-Netze können die Vitalparameter mit extrem geringer Verzögerung an Ärzte zur medizinischen Fernüberwachung in Echtzeit übertragen werden. Des Weiteren eröffnet sich durch 6G eine Vielzahl von Anwendungen, die den enormen Bandbreitenvorteil des Terahertz-Bandes und neue Methoden der Künstlichen Intelligenz kombinieren. Zum Beispiel im Bereich der digitalen Zwillinge. Dabei handelt es sich um die virtuellen Gegenstücke von Geräte, Maschinen, Objekten, Prozessen oder sogar Lebewesen. Mithilfe von unter anderem Sensoren, Künstlicher Intelligenz, Kommunikations- und Lokalisierungstechnologien werden sie als digitale Duplikate erstellt. Aufgrund der extrem hohen Datenraten und der sehr geringen Latenz, die 6G bieten wird, wäre es möglich, die Realität in einer virtuellen Welt ohne zeitliche oder räumliche Einschränkungen mithilfe digitaler Zwillinge zu überwachen, zu simulieren und zu analysieren. Dies wird in vielen Bereichen der Industrie 4.0, der Automobilindustrie, der Medizin, der Bildung und der Unterhaltung erhebliche Auswirkungen haben. Man kann also davon ausgehen, dass 6G Anwendungen ermöglichen wird, die unser Leben, unsere Gesellschaft und die Wirtschaft vollständig und auf eine Weise verändern werden, wie es die Menschheit noch nie zuvor gesehen hat.

Warum beschäftigen wir uns mit 6G, wenn wir 5G noch nicht einmal umgesetzt haben?

Zwar wird 6G voraussichtlich erst 2030 eingeführt, aber es gibt noch so viele offene Fragen, zum Beispiel zur Hardwareentwicklung für die Mobilkommunikation über 100 GHz, da erwartet wird, dass das D-Band (0,11 bis 0,17 THz) voraussichtlich verwendet wird. Noch nie wurden solche Frequenzen für die Mobilkommunikation verwendet. Deshalb fängt die Forschungs- und Entwicklungs-Community viel früher an, sich mit der Beantwortung der Software- und Hardwarefragen bis zu den Anwendungen zu befassen. Zehn Jahre vor der Markteinführung – das ist typisch. Ungefähr fünf Jahre vor der Einführung werden dann die Spezifikationen festgelegt, dann können Trials folgen. Bevor die Bevölkerung die Vorteile einer neuen Generation genießt, gibt es sehr viel Arbeit dahinter, die von Forschenden umgesetzt wird. Unter anderem dafür wurde beispielsweise der Innovationscampus Elektronik und Mikrosensorik Cottbus (iCampus Cottbus) ins Leben gerufen, in dem Fraunhofer mit der BTU Cottbus-Senftenberg und zwei Leibniz-Instituten an Vernetzungstechnologien und Sensorik von morgen forscht.

Welche neuen Geschäftsmodelle werden mit 6G entstehen?

Seit 5G spielt die Aufbau- und Verbindungtechnik eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung von drahtlosen Systemen für Mobilkommunikationsanwendungen. Da es nicht mehr trivial ist, ein Hochfrequenz-Frontend-Modul für Mobilkommunikation herzustellen, sind die Material-, Leiterplatten- und Komponentenhersteller gefordert. Dies eröffnet neue Geschäftsmöglichkeiten auch für KMU, die bei 1G bis 4G praktisch kaum eine Rolle spielten. Dadurch entstehen schon jetzt viele neue Geschäftsmodelle, und bei 6G wird es genauso sein. Wie erwähnt werden für 6G voraussichtlich Frequenzen im Bereich 0,11 bis 0,17 THz verwendet: je höher die Frequenzen, desto kleiner die Komponenten. Das heißt, wir werden in der Lage sein, sehr kleine Systeme für 6G zu bauen. Solche miniaturisierten 6G-Systeme können in bestehende Geräte und Maschinen integriert werden und neue Upgrades einführen, ohne die Ästhetik zu ändern oder den Formfaktor der Geräte und Maschinen wesentlich zu verändern. Infolgedessen könnten sich insbesondere in der vertikalen Industrie unzählige neue Anwendungen ergeben. Dies könnte zu einer Explosion an neuen Geschäftsmodellen führen.

Welche technologischen Lösungen existieren heute für 6G?

Für 6G gibt es heute noch keine vollständigen Lösungen. Es werden jedoch neue Konzepte untersucht, um grundlegende Herausforderungen zu lösen. Zuerst muss die enorme Freiraumdämpfung überwunden werden. Dafür müssen wir Mehrantennen-Architekturen mit hunderten Antennen pro Mobilfunk-Basisstation aufbauen, sogenannte massive Multiple-Input-Multiple-Output-Architekturen (MIMO-Architekturen). Wir müssen klären, wie viele Grundelemente davon wir erst mal aufbauen und wie wir diese zusammenschalten, sodass schlussendlich lange Übertragungen, sehr gute Strahlformung und geringer Energieverbrauch möglich sind. Außerdem dürfen jegliche Störungen das elektromagnetische Signal nicht einschränken. Der erste Schritt ist also, neue massive MIMO-Systemarchitekturen für die effiziente Realisierung der Hardware auszuarbeiten. Der zweite Schritt ist die Umsetzung der Systemarchitektur. Und hier kommt das Fraunhofer IZM ins Spiel: Wir werden die notwendigen Packaging-Technologien für die Systemintegration, neue Terahertz-integrierte massive MIMO-Antennen-Arrays und neue Hochfrequenz-Designmethoden zur Verfügung stellen, damit 6G-Frontend-Module aufgebaut werden können. Dafür haben wir schon Lösungen vorgeschlagen: Unser 6G-Projekt 6GKom – das erste vom BMBF geförderte Projekt in Deutschland zur Entwicklung von 6G-Terahertz-Modulen – hat am 1. Oktober 2019 begonnen. Das Fraunhofer IZM hat bereits Hochfrequenz-Systemintegrationslösungen zur Realisierung von solchen Modulen patentiert. Sie basieren auf miniaturisierten Fan-Out-Packaging-Plattformen mit integrierten Antennen, die heutzutage noch nicht existieren.

Können Sie noch einmal die technischen Unterschied zwischen 5G und 6G zusammenfassen?

Es gibt viele Unterschiede zwischen 5G und 6G. Lassen Sie mich nur einige nennen. Zunächst das Frequenzspektrum: Bis 4G spielte sich die gesamte Mobilkommunikation im Sub-6-GHz-Bereich ab. In 5G befinden wir uns bei 26 GHz, 28 GHz und 39 GHz, also erstmals oberhalb des 6-GHz-Spektrums. Und bei 6G beabsichtigen wir, in den Terahertz-Bereich zu gehen, wie erwähnt voraussichtlich im D-Band (0,11 bis 0,17 THz). Darüber hinaus könnte 6G auch VLC (Visible Light Communication) verwenden, einen vielversprechenden optischen Kommunikationsansatz für die Nahbereichskommunikation, bei dem sichtbares Licht zwischen ungefähr 400 und 800 THz verwendet wird. Zweitens die Datenrate: Es wird erwartet, dass 5G eine Spitzendatenrate von circa 20 Gbit/s erreicht, wobei 6G eine Spitzendatenrate von mehr als 1 Tbit/s erwartet. Es gibt auch einen signifikanten Unterschied zwischen der Datenrate pro Benutzer: In 5G werden ungefähr 100 Mbit/s erwartet, während für 6G mit circa 1 Gbit/s zu rechnen ist. Drittens die Latenz: Es wird erwartet, dass 5G eine Latenz von ungefähr einer Millisekunde und höher aufweist. 6G würde weit weniger als eine Millisekunde, voraussichtlich 100 Mikrosekunden, erreichen. Eine extrem kleine Latenz ist sehr wichtig für Anwendungen wie holografische Kommunikation, Virtual, Augmented und Mixed Reality sowie für die medizinische Ferndiagnose und -chirurgie. In diesen medizinischen Anwendungen muss das Netz gleichzeitig eine sehr hohe Zuverlässigkeit, geringe Latenz und extrem hohe Datenraten bieten. Im Gegensatz zu 5G wird 6G so entwickelt, dass alle diese Anforderungen gleichzeitig erfüllt werden. Einen großen Unterschied wird es auch hinsichtlich der Anzahl der angeschlossenen Geräte pro Quadratkilometer ebenso wie der Energieeffizienz geben. Ich glaube jedoch, dass es noch zu früh ist, die meisten dieser Unterschiede zu quantifizieren.

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