Branchenreport Industriegase Mehr als nur Gas und Luft

Bild: holmborn
30.06.2015

Bei Industriegasen ist das Serviceportfolio ausschlaggebend. Mit dieser Leitlinie behaupten sich zwei mittelständische Unternehmen erfolgreich gegen die Branchenriesen.

Mit technischen Gasen hat der Endverbraucher meist nur zu tun, wenn er für einen Geburtstag Luftballons mit Helium füllt. Aber kaum etwas, das er kauft, kann ohne technische Gase hergestellt werden. Auf diesem von börsennotierten Global Playern wie Linde und Air Liquide dominierten Markt agiert eine kleine Zahl mittelständischer Unternehmen sehr erfolgreich. Dazu gehören die Westfalen Gruppe aus Münster und die Messer Gruppe aus Bad Soden. Beide produzieren eine Vielzahl von Gasen – neben Stickstoff, Acetylen, Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlendioxid und Argon auch Gasgemische oder Gase für medizinische Zwecke. Die Branchenvertreter blicken optimistisch in die Zukunft, auch wenn der Verbrauch von Gasen teils starken Schwankungen unterliegt. „Als Hersteller und Händler technischer Gase sind wir sehr stark von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig“, sagt Thomas Beinlich, Leiter des Bereichs Gase der Westfalen Gruppe. „Lahmt die Konjunktur, wie derzeit in Frankreich, dann produzieren unsere Kunden beispielsweise in der Metallverarbeitung erheblich weniger und benötigen auch weniger Gase.“ Doch über mehrere Jahre betrachtet wächst der Markt für Industriegase schneller als die Gesamtwirtschaft.

Tim Evison, Vice President Geschäftsentwicklung und Strategisches Marketing der Messer Gruppe, rechnet vor: „Die acht Milliarden Menschen, die 2030 auf der Erde leben werden, müssen alle ernährt und zumindest mit sanitären Einrichtungen und sauberem Wasser versorgt werden: Dies deutet auf wachsende Märkte für Gase hin, um die Produktivität in der Landwirtschaft sowie die Effizienz in der Lebensmittelverarbeitung, -lagerung und -verteilung zu steigern." Die Bevölkerung der Welt stelle bei LED-Beleuchtung zudem einen Markt im Umfang von 64 Mrd. Euro dar, und für ihre Reiselust würden weitere 30.000 Flugzeuge erforderlich werden. Industriegase sind, so Evison, heute fest mit der Herstellung dieser Güter verbunden: Seien es die hochreinen Trägergase, die für die moderne Elektronikproduktion erforderlich sind, oder der Hochdruck-Stickstoff, der für die Fertigung von leichten Flugzeugflügeln aus Verbundmaterial benötigt werde.

Flaschen, Tanks, Bündel, On-Site-Produktion

Industrielle Gase werden in vier Lieferformen angeboten: In Flaschen, Tanks, Bündel und als On-Site-Produktion beim Kunden. Alle drei sind im Wandel begriffen. Flaschen und ihre Ventile werden leichter, kleiner, für einen höheren Druck ausgelegt und digitalisiert, die Infrastruktur wird immer benutzerfreundlicher: „Tanks werden 'intelligent'“, erklärt Evison. „Sie können ihren Status an Lieferanten melden und selbst eine Nachlieferung anfordern anstatt auf die Bestellung eines Kunden zu warten. Luftzerlegungsanlagen können in Stromnetze integriert werden, was eine Rolle bei der Netzstabilisierung spielt, oder in einigen Segmenten komplett durch neue Formen der Sauerstofferzeugung abgelöst werden. Hierzu gehören Keramikmembrane und andere Technologien, an denen an Universitäten überall auf der Welt intensiv geforscht wird.“ Für Europa rechnet er mit starken Zuwächsen bei Anlagen für die Vor-Ort-Erzeugung von Sauerstoff – dann nämlich, wenn es zu der geplanten Neuregelung des Emmissionshandels kommt und diese zu einer Verteuerung von CO2-Emissionen führt. In diesem Fall würde es sich noch stärker lohnen, bei der Verbrennung reinen Sauerstoff statt Luft zuzuführen, denn das sorgt für höhere Temperaturen und weniger Abgase.

Einer der größten Verbraucher technischer Gase ist die petrochemische Industrie. Deren Großprojekte entstehen vor allem, wo die großen Öl- und Gasvorkommen sind. „Diese Regionen, die häufig weit weg sind von entsprechenden großen Handelsgasmärkten, erleben einen Boom bei der On-Site-Produktion von Industriegasen“, so Evison. Wie behaupten sich mittelständische Unternehmen im Wettbewerb mit den Branchenriesen – noch dazu in einer Branche, in der es um immer gleiche, standardisierte Produkte geht, wo ein Unternehmen also nicht behaupten kann, seine Ware sei besser als die der Konkurrenz? „Über Service und Dienstleistung“, sagt Thomas Beinlich, „indem wir für den Anwender eine Gasversorgung entwickeln, die im Idealfall die Kosten senkt und die Qualität verbessert.“ Als mittelständisches Familienunternehmen mit flachen Hierarchien und kurzen Entscheidungswegen könne Westfalen meist schneller und flexibler auf Kundenanforderungen und Marktbewegungen reagieren als die schwerfälligeren Großkonzerne. „Gemeinsam mit dem Kunden entwickeln wir eine maßgeschneiderte Gaseversorgung, die seine industriellen Prozesse optimiert – vom Betonkühlen über die Metallbearbeitung bis hin zur Lebensmittelverpackung.“

So bietet Westfalen in seinem Sondergasezentrum in Hörstel, einem akkreditierten Prüf- und Kalibrierlabor, auf Kundenwunsch hergestellte Spezialitäten wie etwa Isotopengemische, Kalibriergase und Reinstgase an. Zu den Kunden gehört etwa der Schornsteinfeger, der für die Kalibrierung seiner Überwachungsgeräte ein bestimmtes Gasgemisch benötigt, das nicht standardmäßig im Handel erhältlich ist. „Generell halten wir eine umfassende Kundenorientierung für eine hervorragende Möglichkeit, in gesättigten Märkten zu punkten“, so Beinlich. Da die Westfalen Gruppe nicht nur Industriegase, sondern auch Erdgas anbietet und dazu Tankstellen betreibt, liegt es auf der Hand, diese Multipräsenz in Vorteile für den Kunden umzumünzen. „Durch unser neues Vertriebskonzept ,Vollversorgung’ versuchen wir, Synergien innerhalb unseres Unternehmens zu erschließen: Wir bieten den Kunden passgenaue Produkte und Dienstleistungen auch aus unseren anderen Geschäftsfeldern an: beispielsweise Energieversorgung mit Flüssiggas oder Tankkarten für Fahrzeugflotten.“ So hat der Kunde stets nur einen Ansprechpartner für alles.

Auch Tim Evison hält den Service, den das Unternehmen mit anbietet, für entscheidend. Käufer fällten ihre Entscheidung häufig nicht allein anhand des Preises: „Tatsächlich stellen die Kosten von Industriegasen nur einen kleinen Teil der Gesamtkosten eines Industrieprozesses dar, in dem ihre Verwendung erforderlich ist.“ Die Zuverlässigkeit bei ihrer Lieferung und die Technologie, durch die sie zum Einsatz kommen, könne über Erfolg und Misserfolg entscheiden.

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