Industrie 4.0 und die digitale Transformation der Prozess- und Fertigungstechnik haben eine Entwicklung in Gang gesetzt, die die Produktion heute deutlich von der vergangener Tage unterscheidet. Die Lebenszyklen der Produkte sind kürzer geworden, zugleich steigt der Individualisierungsgrad, das heißt, es gibt mehr Varianten, in manchen Fällen können Kunden das Produkt sogar individuell anpassen. Zugleich soll die Produktion einer „Losgröße 1“ nicht teurer sein als die Massenfertigung – eine enorme Herausforderung für Maschinenbauer und Automatisierer.
Um diese Anforderung zu erfüllen, muss die Flexibilität der Maschinen stetig erhöht werden. Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz werden Maschinen „smart“, bekommen also zusätzliche Fähigkeiten, können flexibler auf neue Anforderungen und Bedingungen reagieren, indem sie aus den anfallenden Daten lernen. Zugleich lassen sich mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz die Bedienung vereinfachen oder auch Prozesse optimieren und die Produktqualität steigern. Das erhöht den Wettbewerbsdruck – und beschleunigt den Trend zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Steuerungs- und Automatisierungstechnik. Wer sich zukunftsfähig aufstellen will, muss sich daher dem Thema Künstliche Intelligenz stellen. Als Hilfestellung beim Einstieg in die neue Technologie präsentieren wir Ihnen hier eine strukturierte Vorgehensweise, die auf unseren Erfahrungen (und Misserfolgen) mit KI-Projekten bei Keba beruht.
Schritt 1: Das „Big Picture“ erarbeiten
Als Erstes gilt es, die Ausgangssituation zu klären. Welche Veränderungen gibt es im Markt, welche technischen Trends werden die nächsten zwei bis fünf Jahre bestimmen? Was machen die Maschinenbauer, was machen die Automatisierer – und vor allem: Was wollen die Kunden? Wie entwickeln sich deren Strategien und Geschäftsmodelle, und daraus abgeleitet ihre Anforderungen? Reden Sie mit Ihren Kunden und fragen Sie nach deren Plänen und Strategien für die kommenden fünf bis zehn Jahre, um sich einen guten Überblick zu verschaffen:
Gibt es möglicherweise Veränderungen im Geschäftsmodell?
Wie wird sich aus deren Sicht die Produktion verändern?
Welche (neuen) Anforderungen ergeben sich daraus an ihre Maschinen und Anlagen?
Welche konkreten Pain Points gibt es, und welche sind – erst oder nur – mit KI lösbar?
Welche Trends sehen sie als relevant an?
Schritt 2: Einfluss von KI identifizieren
Nun muss geklärt werden, an welcher Stelle des „Big Picture“ Einflüsse von Künstlicher Intelligenz zum Tragen kommen. Welche Rolle spielt KI innerhalb dieser Trends? Welche Themenfelder gibt es für KI? Zum Beispiel:
Maschinenbedienung: Vereinfachung mit Assistenz-Systemen
Intelligente Steuerungs- und Funktionsergänzung der Maschinen
Cloud-Lösungen zur Datenanalyse
Wer noch keine eigenen Ressourcen für KI im Unternehmen hat, sollte sich im Rahmen dieses Schrittes darum bemühen, ein Grundverständnis für KI aufzubauen, beispielsweise thematisch passende Events besuchen, Best-Practice-Beispiele studieren oder Unterstützung von erfahreneren Partnern einholen.
Schritt 3: Eigene Position definieren
Jetzt geht es darum, die bisherigen Erkenntnisse erstmals zu konsolidieren und auf die eigene Situation abzubilden. Abgeleitet aus dem „Big Picture“ und den identifizierten KI-Trends sollten Sie Antworten auf die Fragen finden, welche Auswirkungen die Marktveränderungen auf Ihr eigenes Geschäft haben werden, und welche Rolle Sie zukünftig einnehmen wollen beziehungsweise können.
Was sind die eigenen Möglichkeiten in Hinblick auf Datenverfügbarkeit? Welche Daten stehen einem als Unternehmen zur Verfügung, welche kann man für Anwendungen selbst erzeugen, auf welche Daten hat man auf alle Fälle keinen Zugriff? Da das Thema KI per Definition datengetrieben ist, definieren diese einen, wenn nicht den essenziellen Bestandteil der eigenen Position. Oder, um es praxisnäher zu formulieren: Welchen Beitrag können Sie leisten, um die technischen und strategischen Veränderungen Ihrer Kunden zu unterstützen? Wie können Sie mit weiterer Digitalisierung und dem Einsatz von KI ihre Produkte und Services besser an die Anforderungen der Kunden anpassen?
Schritt 4: KI-Handlungsfelder identifizieren
Daraus ergibt sich fast zwangsläufig bereits die nächste Frage: Welche KI-Themenbereiche sind für Sie relevant? Welche Bereiche wollen beziehungsweise können Sie besetzen und künftig bedienen? Die Antworten sind – zumindest teilweise – auch davon abhängig, welche eigenen Kompetenzen zur Verfügung stehen. Dabei sollten Sie bedenken, dass KI-Lösungen sowohl Hardware wie auch Software benötigen. Um diesen Schritt erfolgreich zu bewältigen, ist zudem eine unbedingte Fokussierung nötig. KI ist eine Technologie, die in Summe ungeheuer viele Möglichkeiten bietet. Die einzelne Applikation ist aber immer nur dann erfolgreich, wenn spezialisierte Probleme gelöst werden müssen.
Schritt 5: Business Case entwickeln
Themen besetzen wollen ist das eine – aber damit auch wirtschaftlichen Erfolg zu haben etwas ganz anderes. Deshalb müssen im nächsten Schritt das Geschäftsmodell und die künftige Business-Strategie geklärt werden. Dabei helfen unter anderem folgende Fragen:
Wie können KI-Anwendungen ins eigene Geschäftsmodell integriert werden?
Können neue, zusätzliche datengetriebene Services angeboten werden?
Welche Kostenvorteile entstehen?
Wo besteht die Chance auf zusätzliche Umsätze?
Unter Umständen ist der Einsatz von KI-Lösungen auch schlicht aus Wettbewerbsgründen unvermeidbar, um bestehende Umsätze nicht zu verlieren!
Schritt 6: Voraussetzungen schaffen
Nun gilt es, die Pläne in die Realität umzusetzen. Welche Skills, welche Ressourcen werden dafür benötigt? Wie lassen sich die KI-Kompetenzen im eigenen Haus schaffen? Insbesondere Data Scientists sind gefragt, um datengetriebene Applikationen und Services zu entwickeln. Die überraschende Erfahrung an dieser Stelle ist: Oft sind die gesuchten Kompetenzen bereits im Haus – nur weiß es keiner. Denn gerade jüngere Mitarbeiter haben teils die nötige Ausbildung, sind aber mit anderen Aufgaben betraut, da ja bisher kein Bedarf an KI-Expertise bestand. Ebenfalls benötigt werden Mitarbeiter mit tiefem Domänenwissen, die als „Bindeglieder“ die Arbeit der KI- und Datenexperten unterstützen und dort fehlendes Verständnis für Prozesse und Abläufe beisteuern. Auch solche „Schnittstellenpositionen“ lassen sich oft mit Mitarbeitern aus dem eigenen Haus besetzen.
Wenn sich solche Experten allerdings nicht im Haus finden, oder die möglicherweise entstehenden Lücken nicht so leicht durch neue Mitarbeiter besetzt werden können, ist zu überlegen, ob die benötigten Skills über Partnerschaften und Kooperationen gewonnen werden können. Allerdings sollte man niemals allein auf externe Unterstützung bauen! Vielmehr gilt es, aus den Kooperationen zu lernen, die eigenen Mitarbeiter zu fördern, weiterzubilden und durch gemeinsame Projekte das nötige Praxiswissen aufzubauen.
Schritt 7: Kooperationspartner suchen
Die Zusammenarbeit mit externen Partnern kann dazu beitragen, sich mit zusätzlichen Ressourcen zu stärken. Als Kooperationspartner kommen andere Unternehmen ebenso in Betracht wie beispielsweise Forschungseinrichtungen. Bei der Partnerwahl gibt es mehrere Aspekte zu bedenken:
Welche Kompetenzen werden gebraucht? Dabei ist die Entwicklung ebenso zu bedenken wie die Produktpflege und der spätere Kundensupport.
Welche Kompetenzen lassen sich optimal anbinden?
Welche Kompetenzen hat der Partner in Bezug auf Hard- und Software?
Bringt der Partner auch Applikationskompetenz mit?
Hat der Partner neben Best-Practice-Beispielen auch Beispiele für Projekte, die nicht funktioniert haben? Was wurde daraufhin geändert?
Im Bereich KI gibt es zahlreiche Newcomer und Start-ups, die mit innovativen Lösungen den Markt treiben. Sie stellen zwar fachlich interessante Kooperationspartner dar. Doch gilt es auch zu überlegen, ob sie in der Lage sind, die Partnerschaft über einen längeren Zeitraum hinweg kompetent, qualitativ hochwertig und zuverlässig zu erfüllen. Start-ups bergen gleich ein doppeltes Risiko: bei mangelndem Erfolg droht die Insolvenz, bei gutem Erfolg die Übernahme. So hat auch Keba einen interessanten Kooperationspartner nach nur einem halben Jahr verloren, weil dieser von einem Wettbewerber aufgekauft wurde.
Zudem lehrt die Erfahrung, dass Newcomer zwar beeindruckende Demonstratoren bauen und glänzende Ideen haben, die Umsetzung jedoch nicht den Anforderungen der Industriekunden entspricht. Diese benötigen Lösungen, die über mindestens fünf bis zehn Jahre lieferbar sind und in dieser Zeit gepflegt und weiterentwickelt werden – und zwar auf der ursprünglichen Hardware, die als installierte Basis im Feld ist.
Gerade der letzte Punkt ist bei KI-Projekten häufig ein Problem. Wenn neuronale Netze und Algorithmen Hardware-nah werden, folgt meist mit jeder neuer Lösungsgeneration ein Wechsel der technischen Basis – für Industriekunden ein K.-o.-Kriterium. Dies ist mit ein Grund, warum der maschinennahe Einsatz von KI bislang nur langsam vorankommt. Für mögliche Kooperationen stellt dies ebenfalls ein Kriterium dar, das wenig Spielraum für Kompromisse lässt: Entweder der Partner beugt sich dem Industrie-Kontext und den damit einhergehenden Beschränkungen – oder Maschinenbauer und Automatisierer müssen selbst die Verantwortung übernehmen und industrietaugliche Lösungen bauen.
Das gleiche Prinzip gilt auch für Kooperationen im Bereich der Datenanalyse, seien es große Cloud-Anbieter oder Plattformen, die von Automatisierern oder einem Zusammenschluss von Maschinenbauern angeboten werden. Jede KI-Lösung sollte auf einer unabhängigen Architektur basieren, so dass der Anwender frei ist in der Wahl der Plattform, denn die Möglichkeiten sind inzwischen breit gestreut: Public Cloud oder Private Cloud kommen ebenso in Betracht wie eine On-Premises-Installation oder der Einsatz von Edge Computing, welches gerade im Bereich KI und 5G auf großes Interesse stößt.
Künstliche Intelligenz: So gelingt der Einstieg
Der Trend zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Fertigungs- und Prozessindustrie ist kaum noch aufzuhalten. Flexible Maschinen und Anlagen beruhen zunehmend auf KI, die Entwicklung setzt sich fort mit der „Smart Factory“. Maschinenbauer und Automatisierer sollten deshalb nicht länger warten, sich mit dieser Technologie zu befassen. Der Einstieg erfordert zwar einen gewissen Aufwand. Wer wie in unserem Beispiel strukturiert und Schritt für Schritt vorgeht, verbessert seine Erfolgschancen deutlich.
Ein Tipp: Fragen Sie bei der Wahl eines Kooperationspartners gezielt nach den Misserfolgen bei der Umsetzung von KI-Projekten und den Schlüssen, die dieser daraus für sich gezogen hat.