Sicherheitsanalyse: Interactive HAZOP Modulare Anlagen bewerten

TÜV SÜD

Regelmäßige Anpassungen und Umbauten an Prozessanlagen beziehungsweise relevante Änderungen können zu einer veränderten Gefahren- und Risikosituation führen. Um die Effizienz insbesondere bei modularen prozesstechnischen Anlagen auf ein neues Level zu heben, hat TÜV Süd die bislang manuelle und statische HAZOP-Methodik zu Interactive HAZOP (iaHAZOP) weiterentwickelt.

Bild: iStock, gremlin
25.04.2024

Effizient, flexibel, dynamisch – so sollen modulare Anlagen in der chemischen Industrie heute sein. Denn Kundenwünsche haben sich mit der Zeit verändert: Geringere Volumina, kleinere Losgrößen sowie verkürzte Produktlebenszyklen und Herstellungszeiten sind an der Tagesordnung. Die Flexibilität modularer Anlagen stellt jedoch denselben Anspruch an Sicherheitsbewertungen. Wie dieser erfüllt werden kann, zeigen TÜV Süd und Merck Electronics in einem gemeinsamen Projekt.

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Modulare Anlagen kommen seit den 1990er Jahren verstärkt auf. Seitdem wurden die dahinterstehenden Konzepte weiter verbessert – das veranschaulicht der Standard VDI 2776. Sie erfreuen sich immer größerer Beliebtheit: Angesichts heutiger Kundenwünsche nutzen sie die Ressourcen Geld und Zeit häufig effizienter als statische Anlagen. Eine moderne modulare Anlage wird aus Process Equipment Assemblies (PEAs) gebildet, einzelnen standardisierten, vorgefertigten und voneinander unabhängigen Modulen. Je nach Auftrag können die Module am gewünschten Produktionsort neu zusammengestellt werden. Die Anlage muss also nicht für einen bestimmten Anwendungsfall von Grund auf neu entwickelt werden. Dies ermöglicht den Wettbewerbsvorteil der Anpassungsfähigkeit in volatilen und dynamischen Märkten gegenüber einer statischen Anlage. Deswegen stellt sich der Einsatz einer statischen Anlage in Bezug auf bestimmte Kundenwünsche oftmals als unwirtschaftlich heraus. Auch für bestimmte Produktkategorien vorkonfigurierte Mehrproduktanlagen erreichen öfter die Grenzen des wirtschaftlich Sinnvollen angesichts der verkürzten Produktlebenszyklen.

Flexible Anlagen, statische Beurteilung

Die höhere Flexibilität modularer Anlagen birgt jedoch ihre eigenen Herausforderungen: Durch jede neue Anordnung der PEAs entsteht eine neue Anlagenbeschaffenheit. Damit gehen neue Gefahrenpotenziale für Personal und Betrieb einher. Gründe sind der Ersatz, das Hinzufügen oder die Entfernung von Modulen und die unterschiedlichen Medien. Dadurch werden die Fahrweise der Anlage und Betriebsparameter beeinflusst, die an das neue Produkt anzupassen sind. Mithin lauern potenzielle, bisher nicht vorhandene Risiken, die verortet und eingeschätzt werden müssen. Eine neue Sicherheitsbewertung ist deshalb mit jeder neuen Modulkonfiguration erforderlich.

Allerdings muss auch die Sicherheitsbewertung mit der Zeit gehen und ihre Flexibilität beweisen. Das etablierte Hazard-and-Operability-Verfahren (HAZOP) ist zur Beurteilung der Gefährdungen modularer Anlagen häufig ungeeignet, da sein statischer Ablauf der Dynamik und Komplexität modularer Anlagen nicht gerecht wird. Ist die modulare Anlage aber nicht schnell genug einsatzbereit, verringert sich ihre Wirtschaftlichkeit trotz aller Vorteile. Deshalb ist ein neues Vorgehen zur Sicherheitsbewertung unumgänglich.

HAZOP wird transparenter und effizienter

Der Herausforderung, genauso flexibel zu sein wie die modulare Anlage selbst, begegnet Interactive HAZOP (iaHAZOP), eine weiterentwickelte Methode zur Sicherheitsbewertung. Dafür hat TÜV Süd die Vorgehensweise des etablierten HAZOP-Verfahrens auf den neuen Anwendungsfall angepasst und ebenfalls modularisiert. Systematisiert und auf die Randbedingungen der Anpassungsfähigkeit ausgelegt, entsteht somit ein Sicherheitskonzept, das den Anforderungen in der modernen chemischen Industrie gerecht wird. Durch die Systematisierung wird das gewohnte und erforderliche Sicherheitsniveau trotz gesteigertem Komplexitätsgrad erreicht. Die Anpassungsfähigkeit der Methode kann nicht nur im Sinne der Beherrschung der Modularisierung der Anlage genutzt werden, sondern erlaubt auch neue Möglichkeiten der Integrierung der Sicherheitsbewertung in die Prozessabläufe des Anwenders. Die resultierenden Vorteile einer aufgeteilten Bewertung sind eine zeitnahe Bewertung mit schnellerer Reaktionsmöglichkeit und damit weniger Down-time.

Inhaltlich stützt sich auch iaHAZOP auf die Norm DIN EN 61882 „HAZOP-Verfahren (HAZOP-Studien)“ und ist auf den modularen Anlagenbau, wie ihn die Richtlinienreihen VDI 2776 „Modulare Anlagen“ und VDI/VDE/NAMUR 2658 „Automatisierungstechnisches Engineering modularer Anlagen in der Prozessindustrie“ beschreiben, anwendbar. Wo sich die traditionelle HAZOP-Methode jedoch auf eine manuelle Sicherheitsbewertung verlässt, geht das Konzept von iaHAZOP einen Schritt weiter, wo durch eine gezielte Digitalisierung eine (Teil-)Automatisierung erreicht wird. Dabei kommen sogenannte Hazard und Safety Rules zum Einsatz, die beispielsweise dem Planer während der Prozesssimulation erstes sicherheitsrelevantes Feedback in Bezug auf die vorgesehenen Module gibt. Weiter ermöglicht eine Anwendung der Hazard Rules unter Berücksichtigung von Sensordaten in Kombination mit einer Simulation zur Laufzeit eine vorausschauende Sicherheit, die vor Systemzuständen, die zur Abschaltung führen würden, warnt, bevor sich eine solche Situation einstellt. Kurz: Die Sicherheitsbewertung oder HAZOP wird interaktiv.

Beispielhaft modular

Das Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck fertigt chemische Produkte und ist in den Gebieten Life Science, Healthcare und Electronics tätig. Merck testet am Standort Darmstadt modulare Anlage zur Herstellung von Vorprodukten für die Halbleiterindustrie. Für diesen Anlagentyp entwickelten Merck und TÜV Süd in Zusammenarbeit ein maßgeschneidertes Konzept zur flexiblen Gefährdungsbeurteilung, mit dem Ziel, Kundenwünsche der heutigen Zeit optimal abbilden zu können: Denn auch die Auftraggeber von Merck bestellen in geringen Stückzahlen und mit sehr spezifischen Anforderungen, sodass Anlagen oft umgerüstet werden müssen. Dies hat geänderte Modulkonfigurationen und Betriebsparameter zur Folge. Das schließlich entwickelte „ready-to-use“-Vorgehen gliedert sich in drei Schritte:

  • Die Einzelmodule (Process Equipment Assemblies) werden initial einmalig auf Basis von einem Beispiel-Teilreferenz-Prozess errichtet und ausgelegt.

  • Danach werden alle PEAs mit den jeweiligen Teilprozessen zu je einem Teilverfahren verheiratet.

  • Zuletzt erfolgt die Integration sämtlicher Teilverfahren zu einem Gesamtverfahren.

Grundlagen aus dem iaHAZOP-Konzept wurden bei der Modularisierung der Gefährdungsbeurteilung bei Merck angewandt. Die Module können nun unabhängig voneinander bewertet werden – das schafft Flexibilität und steigert die Transparenz. Zu dieser Unabhängigkeit gesellen sich jedoch mögliche zeitliche Abstände zwischen den Teilbewertungen. Die Menge der Teilbewertungen und damit der an den Bewertungen beteiligten Fachkräfte stieg entsprechend des modularen Bewertungskonzepts an. Um dennoch so viel Zeit wie möglich zu sparen und Missverständnisse vorzubeugen, wurde darauf geachtet, Fachbegriffe äußerst exakt und einheitlich zu verwenden und bei der Dokumentation keine Eventualitäten offen zu lassen. Letzteres kommt besonders beim Blick auf die Schnittstellen der Teilprozesse zum Tragen. Mittels des entwickelten Verfahrens der modularen Sicherheitsbewertung kann Merck auch angesichts volatiler Umstände mit der erforderlichen Flexibilität und Sicherheit produzieren.

Bildergalerie

  • Anlagenbetreiber sparen mit Interactive HAZOP Zeit und erhalten mehr Flexibilität bei modularen Anlagen.

    Anlagenbetreiber sparen mit Interactive HAZOP Zeit und erhalten mehr Flexibilität bei modularen Anlagen.

    Bild: TÜV Süd

  • Beispiel für ein standardisiertes Anlagenmodul (PEA): Merck verwendet dieses zur Rektifikation (Gegenstromdestillation).

    Beispiel für ein standardisiertes Anlagenmodul (PEA): Merck verwendet dieses zur Rektifikation (Gegenstromdestillation).

    Bild: Merck Electronics

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