Fast lautlos gleitet der Pkw aus der Parklücke, beschleunigt und fährt dann einen großen Bogen am Hauptgebäude der Fachhochschule (FH) Bielefeld entlang. Es ist ein Elektrofahrzeug, soeben aufgeladen an einer Westaflex-Ladesäule mitten auf dem Campus. Lars Quakernack entfernt die Abdeckung der Säule.
Wo sich bei kommerziellen Ladesäulen die Abrechnungseinheit befindet, stecken hier Kabel, Schalter und eine Messeinheit. „Hier sitzt die Intelligenz“, erklärt Melina Gurcke. Denn die Ladesäule ist Teil eines KI-Systems, das die Ladung des davon rauschenden Autos gesteuert hat.
Eine Spülmaschine braucht 900 W, ein E-Auto 11.000 W
Seit Januar 2020 erforschen die beiden Elektrotechniker Gurcke und Quakernack als wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Technische Energiesysteme (ITES) in der Arbeitsgruppe Netze und Energiesysteme (AGNES), wie sich das Niederspannungsnetz mit Hilfe von KI eigenständig so steuern lässt, dass es nicht überlastet wird. Oder wie es im Titel des Projektes heißt: „KI-Grid – Entwicklung und Validierung eines KI-basierten Systems zur autarken Steuerung von intelligenten zellulären Netzen“.
Initiiert hat das vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) der EU geförderte Projekt Prof. Dr.-Ing. Jens Haubrock, am Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik zuständig für das Lehrgebiet Regenerative Energiesysteme und Elektrotechnik. Mit dabei sind auch die Universität Bielefeld und als Industriepartner die Firma Westaflexwerk, der Gütersloher Spezialist für Stromladesäulen, und der regionale Netzbetreiber Bielefelder Netz. Jens Haubrock ist zudem der Leiter von AGNES, in der in verschiedenen Projekten zur intelligenten Integration von regenerativen Energieerzeugern und neuen Lasten in das elektrische Energiesystem geforscht wird.
Denn mit der Energiewende steht das Stromnetz vor großen Herausforderungen. Anders als etwa konventionelle große Kraftwerke liefern kleine regenerative Energieerzeuger wie Photovoltaikanlagen auf Hausdächern keine konstante, planbare Leistung, sondern wetterbedingt eine schwankende. Sie wird dezentral ins Niederspannungsnetz eingespeist, an das auch die privaten Haushalte angeschlossen sind. Und hier trifft sie auf einen anderen Faktor der Energiewende, der das Stromnetz herausfordert: eine neue Last durch Elektrofahrzeuge.
„E-Autos benötigen für den Ladevorgang phasenweise eine sehr hohe Leistung. Gekoppelt mit den Schwankungen in der Erzeugung kann das die Netzstabilität gefährden”, sagt Gurcke. Zum Vergleich: Eine Spülmaschine läuft mit etwa 900 Watt, während ein Elektroauto mit 11 kW (also 11.000 Watt) und mehr geladen werden kann. Ein Energieausgleich im Netz tut Not.
Eine Zustandsabschätzung des Netzes in Ladesäulen ist gefordert
Genau dafür will das Projekt KI-Grid sorgen. Die Idee: KI übernimmt die eigenständige Steuerung von sogenannten Netzzellen, in denen verschiedene Stromerzeuger und -verbraucher zusammengeschlossen sind. Auf der Basis von Messdaten schätzt in einem ersten Schritt die KI den aktuellen Zustand der Zellen ab und stimmt die steuerbaren Elemente basierend auf dem Netzzustand anschließend so aufeinander ab, dass das Netz nicht überlastet wird. „Netzdienlich nennen wir das“, sagt Quakernack und fasst die Innovation zusammen: „Wir machen das Netz beobachtbar, schaffen eine Möglichkeit zur sogenannten Netzzustandsabschätzung und entwickeln auf dieser Basis eine autarke Steuerung.“
Bisher war eine solche Zustandsabschätzung nicht nötig, bedeutete die konventionelle Energieerzeugung doch eine konstante und steuerbare Bereitstellung von Strom. Die Zustandsabschätzung gestaltet sich in den Niederspannungsnetzen schwierig, da passende Messtechnik im Stromnetz kaum vorhanden ist. Deshalb implementiert das Projekt mit sogenannten µ-Phasor-Measurement-Units (µPMU) diese Messtechnik gleich mit. Basierend auf diesen Messdaten wird der Zustand des restlichen Netzes abgeschätzt.
Zum Beispiel in Ladevorrichtungen für Elektrofahrzeuge, denn die gehören zu den wenigen Elementen des Niederspannungsnetzes, die sich überhaupt steuern lassen – sie nehmen eine Schlüsselposition im Projekt ein. „Niemand möchte, dass der Stromversorger zwischendurch die Leistung einer Ladeanlage für die Elektrofahrzeuge drosselt“, sagt Quakernack. „Aber ein Fahrzeug muss nicht immer mit der maximal möglichen Leistung geladen werden. Häufig reicht eine geringe Leistung aus, wobei die Batterie der Fahrzeuge dann zwar langsamer, aber immer noch ausreichend geladen wird. Das ist relevant, wenn wegen der hohen Leistungen die Netzzelle zu überlasten droht.“
Um ihr Ziel zu erreichen, rüsteten die Forschenden zusammen mit Westaflexwerk zwei Ladesäulen um und implementierten eine µPMU und einen Computer zur intelligenten Verarbeitung dieser Daten, die KI. Dabei setzt das Team der Universität Bielefeld im Projekt auf Edge-Computing, also auf dezentrale Datenverarbeitung direkt vor Ort, was die Sicherheit privater Daten erhöht.
Digitaler Zwilling der Netzzelle eines Bielefelder Wohngebiets im Labor
Vor dem Feldtest musste das KI-System noch ein umfassendes Training absolvieren, und zwar im Labor. „Der Test muss im Labor geschehen, da ein noch untrainiertes KI-System dem elektrischen Netz mehr schaden als helfen würde“, erläutert Gurcke. „Das System muss erst lernen, aus den erhaltenen Daten den richtigen Zustand des Netzes abzuschätzen und dementsprechend die Ladesäule zu steuern.“ Fehler und fortwährende Modifikationen gehören bei der Optimierung des KI-Systems dazu.
Im Labor entwickelten die Elektrotechnik-Teams den digitalen Zwilling einer realen Netzzelle. Dabei handelte es sich um ein Wohngebiet in Bielefeld. Für ihre Simulation nutzten die Forschenden aktuelle Messdaten des Netzbetreibers Bielefelder Netz und generierten die ebenfalls benötigten historischen Daten zum Training der KI mittels Zufallsalgorithmen selbst.
Versorgt mit historischen und aktuellen Daten konnte die KI-Einheit nun die Zustandsabschätzung und die Steuerung trainieren und am Hardwareteststand validiert werden. Der Teststand im Labor beschreibt eine Art analogen Simulation der Netzzelle, die bereits mit echtem Strom arbeitet. „Hier haben wir die entscheidenden Elemente des Netzes in Hardware dargestellt, etwa Modelle für die zu ladenden Elektrofahrzeuge“, erklärt Gurcke.
Autohaus Mattern und CITYca ideale Partner durch Modellvielfalt
Schließlich war das KI-System fit für den Feldtest. Statt der Modelle von Elektrofahrzeugen am Hardwareteststand galt es jetzt, reale Autos zu laden. Ein echter Härtetest für die KI, denn: „Die verschiedenen Fahrzeuge verhalten sich, je nach Konstruktion der Hersteller, unterschiedlich bei der Ladung“, so Quakernack. „Ebenso unterschiedlich muss die KI reagieren.“ Möglichst viele verschiedene Modelle waren deshalb für den Feldtest gefragt, was die Forscher vor ein praktisches Problem stellte. Wer hat schon eine große Auswahl an Elektroautos in der Garage stehen? Da kamen das Autohaus Mattern und der Anbieter für E-Carsharing CITYca gerade recht. Für die beiden Unternehmen war es keine Frage, die Bielefelder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu unterstützen und verschiedene Elektrofahrzeuge aus ihrer Flotte zur Verfügung zu stellen.
Hans-Jürgen Rost von CITYca sagt: „Elektromobilität ist eine Zukunftstechnologie, die auf eine zuverlässige Infrastruktur angewiesen ist. Wir leisten hier gern unseren Beitrag zur Forschung in diesem Feld.“ Auch Marius Mattern vom Autohaus Mattern hat Interesse an KI-Grid: „Unser Unternehmen setzt auch bei Elektrofahrzeugen auf unsere bewährte Mehrmarkenstrategie, und so waren wir in der Lage, den Forscherteams Fahrzeuge zu überlassen, die sich an den Ladesäulen sehr unterschiedlich verhalten. Die Ergebnisse des Feldtests sind dann auch für uns bei der Beratung unserer Kunden wieder interessant.“
Eine Woche lang testeten die Forschenden ihr KI-System nun unter realen Bedingungen auf Herz und Nieren. Die Fahrzeuge wurden an zwei Ladesäulen auf dem Campus angeschlossen, die zugleich die fließende Leistung messen und die Daten im KI-System verarbeiteten. Dazu gehörten etwa die Haushalte, die nach realen Messdaten aus einem Bielefelder Wohngebiet nach wie vor über den Hardwareteststand im Labor abgebildet wurden. In Abstimmung aller Elemente der Netzzelle sollte die KI nun die Ladesäulen steuern. Das tat sie zur vollsten Zufriedenheit der Beteiligten: „Meistens wurde die Ladeleistung gedrosselt, um eine Überlastung des Netzes zu verhindern“, berichtet Gurcke. „Das Zusammenspiel der Teilkomponenten funktionierte wie geplant“, freut sich Quakernack. Im nächsten Schritt gilt es, die Daten des Feldtestes ausführlich zu analysieren und darauf basierend dem KI-System den letzten Schliff zu verpassen.