Explosive Dekompression Dichtungen für tiefe Minusgrade

In Explorations- und Transportregionen (zum Beispiel in Alaska, Kanada oder Russland) herrschen Niedrigtemperaturen, die für Dichtungskomponenten eine Herausforderung darstellen können.

Bild: AdobeStock, bht2000
01.08.2022

Die Ölindustrie am Polarkreis birgt hochinteressante Gas- und Ölreserven. In Regionen wie Alaska, Kanada, Grönland und anderen arktischen Gebieten wurden bedeutende Erdöl- und Erdgasvorkommen entdeckt. Die Tieftemperaturbeständigkeit von Elastomerdichtungen ist in diesen Regionen von entscheidender Bedeutung.

Die Förderung von Öl oder Gas ist komplex, zeit- und kostenintensiv. Alle Bohrungen haben eins gemeinsam: Die Anforderungen an das verwendete Material und die zum Einsatz kommenden Komponenten sind extrem. So müssen beispielsweise Bohrköpfe hohen Bohrschlammdruck, Vibrationen, starken Druckschwankungen und aggressiven chemischen Substanzen standhalten. Bei einer Tiefenbohrung (Downhole Drilling) müssen die Materialien hohen Drücken bei gleichzeitig hohen Temperaturen von bis zu 200 °C widerstehen können. Wenn in diesen Bereichen ungeeignete Elastomerdichtungen eingesetzt werden, zum Beispiel in den Ventilsteuerungen für die Motoren oder Auslösemechanismen und Messgeräte, kann das eine ganze Maschineneinheit beschädigen und die Förderung muss gestoppt werden. Ein Problem hierbei ist, dass der Bohrkopf und die gesamte Antriebstechnik während der Bohraktivität nur sehr begrenzt beobachtet werden kann. Die Bedingungen mehrere Kilometer unter der Erdoberfläche sind alles andere als technologiefreundlich. Zudem ist ein Austausch der Dichtungen nicht so einfach möglich bei Bohrtiefen von über 2.500 m. Beim Einsatz der Richtbohrtechnik sind sogar Vorkommen in Tiefen von 5.000 m erschließbar und Rohrlängen bis zu 11.000 m möglich. Ein Produktionsstopp unter diesen Bedingungen hat fatale Folgen, denn die Ausfallzeiten zehren an der Produktivität und Rentabilität. So belaufen sich die laufenden Plattform- und Crew-Kosten auf etwa 200.000 Euro pro Tag. Aber auch Kosten von bis zu 500.000 Euro täglich sind möglich. Deshalb müssen die hier eingesetzten Komponenten auch in diesen Extrembedingungen absolut zuverlässig arbeiten.

Typische Anwendungsgebiete für Elastomerdichtungen sind neben der Exploration auch der Transport, die Lagerung und die Verarbeitung von Öl und Gas beziehungsweise die nachgelagerte Produktion chemischer und petrochemischer Erzeugnisse. Hierzu zählen unterschiedlichste technische Bauteile-/gruppen. Sowohl in den Antriebsmotoren der Bohrköpfe, aber auch in Gasfiltern, Ventilen, Verrohrungen, Armaturen, Pumpen oder Kompressoren, kommen Elastomerdichtungen als wichtige, weil sicherheitsrelevante Komponenten zum Einsatz.

Explosive Dekompression

In diesen Bereichen haben viele Betreiber in der Gas- oder Chemie-Industrie sowie den Herstellern der Zulieferbauteile insbesondere bei starkem Druckabfall im Medium Gas häufig Leckageprobleme mit Elastomerdichtungen. Hier müssen diese Dichtungen gegenüber gasförmigen Medien bei Drücken von mehr als 30 PN/30 bar und bei plötzlichem Absinken (innerhalb weniger Sekunden) speziellen Anforderungen widerstehen. In diesen Anwendungen dürfen nur speziell getestete Werkstoffe zum Einsatz kommen. Die Norm DIN EN 14141 für Erdgas-Leitungen schreibt vor, dass nichtmetallische Teile von Armaturen, wie Elastomerdichtungen gegenüber explosiver Dekompression beständig sein müssen. Hierzu zählen unter anderem auch Pumpen, Kompressoren, Rohrleitungen, Verbindungen, Armaturen- oder Ventile.

Nur speziell aufgebaute Elastomere können in diesen Anwendungen eingesetzt werden, da der Widerstand herkömmlicher Elastomerdichtungswerkstoffe gegenüber den hier auftretenden Kräften nicht ausreichend ist. Die sogenannten Anti-Explosive-Decompression-(AED)- oder Rapid-Gas-Decompression-(RGD)-Dichtungswerkstoffe widerstehen dagegen diesen harten Bedingungen. Elastomerdichtungen können die Beständigkeit gegenüber Explosiver Dekompression mit dem Test nach Norsok M-710 Rev. 3 (Annex B) und/oder ISO
23936-2 nachweisen.

Spezialgebiet Polarkreis

In sehr kalten Regionen kommt, neben den ohnehin schon extremen Anforderungen an Elastomerdichtungen, mit der Kälte eine weitere große Herausforderung hinzu. Sei es beim oberirdischen Einbau der Dichtung in kalter Umgebungstemperatur oder beim dauerhaften Einsatz, zum Beispiel in Molchschleusen, Armaturen oder Ventilen der Pipelines. Die meisten Elastomerdichtungen, insbesondere bei den überwiegend eingesetzten Dichtungen auf Basis von Fluorkautschuk (FKM), sind im Einsatz bei Temperaturen unter -25 °C häufig nicht sehr geeignet. Nur spezielle FKM-Werkstoffe kommen hier zum Einsatz. Diese sind dann aber meist nicht AED/RGD beständig oder chemisch stark widerstandsfähig.

Speziell für diese Anwendungen hat der unabhängige Hersteller C. Otto Gehrckens, kurz COG genannt, einen FKM-Spezial-Compound entwickelt und intensiv prüfen lassen. Der neue FKM-Werkstoff Vi 900 hat den Norsok-Standard-M-710-Test mit dem bestmöglichen Ergebnis 0000 abgeschlossen. Darüber hinaus erfüllt dieser Hochleistungs-FKM die Anforderungen der ISO 23936-2 zur Beständigkeit gegen Explosive Dekompression. Mit einer Einsatztemperatur von -55 °C (TR-10 Wert -40 °C) bis +230 °C kann dieses Dichtungsmaterial problemlos auch bei großen Temperaturschwankungen eingesetzt werden. Der FKM Vi 900 eignet sich deshalb auch für den Einsatz in Bauteilen oder Baugruppen mit API 6A & 6D der Ventil- und Armaturenindustrie, in der eine Designtemperatur von -46 °C verlangt wird. Abgerundet wird das Werkstoffprofil des äußerst chemisch resistenten FKM-Compounds mit dem branchenrelevanten NACE-TM0187-(Sauergas)-Standard. Speziell die Kombination von chemischer- und AED-Beständigkeit bei gleichzeitiger Tieftemperatuflexibilität lässt dieses Dichtungsmaterial für den Einsatz in Regionen mit Niedrigtemperaturen für Konstrukteure und Anwender bei technisch extremen Herausforderungen in der Öl- und Gasbranche interessant werden.

Fazit

In Anwendungen mit Explosiver Dekompression dürfen ausschließlich nur speziell für diesen Bereich konzipierte und getestete Elastomere zum Einsatz kommen. Der Norsok-Standard ist hier der maßgebliche Sicherheitsindikator zur Vermeidung von kostspieligen Leckagen und Maschinenstopps.

Das Problem der Explosiven Dekompression darf allerdings nicht isoliert betrachtet werden, denn die Medienbeständigkeit gegenüber dem abzudichtenden Medium ist bei der Auswahl des richtigen Dichtungswerkstoffes gerade auch in diesen Einsatzgebieten der Öl- und Gasindustrie unabdingbar. Gleiches trifft auch auf die Eignung des Einsatztemperaturbereichs zu.
Für Konstrukteure und Anwender ist es daher sinnvoll mit erfahrenden Herstellern zusammenzuarbeiten, die auch über eine entsprechende Werkstoffauswahl und das entsprechende Know-how auf diesem Gebiet verfügen. So kann gemeinsam eine optimale Dichtungslösung gefunden werden und die Sicherheit in diesen Anlagen, insbesondere zum Schutz der dort arbeitenden Menschen, sichergestellt werden.

Bildergalerie

  • Der Spezial-FKM-Compound Vi 900 für die Öl- und Gasindustrie hat bei Norsok mit dem bestmöglichen Ergebnis abgeschlossen.

    Der Spezial-FKM-Compound Vi 900 für die Öl- und Gasindustrie hat bei Norsok mit dem bestmöglichen Ergebnis abgeschlossen.

    Bild: C. Otto Gehrkens

  • Ein durch Explosive Dekompression beschädigter O-Ring.

    Ein durch Explosive Dekompression beschädigter O-Ring.

    Bild: C. Otto Gehrkens

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