Smart Traffic & Mobility Car2X erobert die Straße

27.01.2014

Jedes Jahr werden rund elf Milliarden Liter Kraftstoff in Deutschland in Staus verschwendet. Höchste Zeit also, den Straßenverkehr besser zu organisieren, um Staus, Unfälle und Umweltverschmutzung zu verhindern. Car-to-X-Kommunikation kann dabei helfen.

In einer Welt, in der Menschen permanent über Smartphones und soziale Netzwerke miteinander verbunden sind, liegt es nahe, auch die Fahrzeuge auf den Straßen miteinander zu vernetzen. Die Idee: Jedes Fahrzeug teilt drahtlos Informationen mit anderen Verkehrsteilnehmern – über Temperatur, Straßenverhältnisse, Verkehrsaufkommen, Baustellen und Staus. „Car2Car“ nennt sich diese Art des Informationsaustausches. Kommt noch die Kommunikation mit Infrastruktur-elementen wie Schildern oder Ampeln dazu, spricht man von „Car2X“. Alle Daten laufen in einer Verkehrszentrale zusammen. Von hier aus erhalten die Fahrer wertvolle Informationen direkt in ihr Auto oder auf ihr mobiles Endgerät. Die Einsatzgebiete sind vielfältig und reichen von Gefahrenwarnungen über Verkehrsmanagement, zentrale Verkehrsflusssteuerung bis hin zu individuellen Empfehlungen zum Fahrverhalten. Im kommerziellen Bereich sind auch Zugangsberechtigungen, Maut oder Parkraumbezahlung denkbar. Die Hoffnung der Entwickler: Besser informierte Autofahrer verursachen weniger Unfälle, können besser im Verkehr „mitschwimmen“ und verbrauchen weniger Kraftstoff.

Nutznießer dieser kooperativen Systeme ist am Ende nicht nur der Fahrer: Straßen- und Infrastrukturbetreiber erschließen sich eine zusätzliche und verlässliche Quelle für Verkehrsdaten. Verkehrszentralen können besser auf bestimmte Situationen reagieren und zum Beispiel Einsatzfahrzeuge oder den öffentlichen Personennahverkehr priorisieren oder variable Geschwindigkeitsempfehlungen ins Fahrzeug senden. Denn vollends ausgeschöpft wird das Potenzial der kooperativen Systeme erst, wenn die Daten sinnvoll ausgewertet und eingesetzt werden, wenn also Kreuzungen und Hinweisschilder intelligent werden und aktiv eingreifen, um den Verkehrsfluss zu verbessern.

Damit diese Vision Wirklichkeit werden kann, müssen Fahrzeuge und Infrastruktur entsprechend ausgerüstet sein – Autos müssen in der Lage sein, ständig ihre Position, Geschwindigkeit und Zielrichtung zu melden, die Straße muss Verkehrshinweise, Beschränkungen und Warnungen kommunizieren können.

Testfeld Wien

Siemens hat in diesem Bereich in den letzten Jahren vielfältige Erfahrungen gesammelt und an Lichtsignalanlagen und Kommunikationsmodulen geforscht, die auf die Zusammenarbeit zwischen Auto und Infrastruktur ausgelegt sind. Im Rahmen eines Feldversuchs testete Siemens gemeinsam mit Projektpartnern wie der Asfinag, Kapsch und AustriaTech im vergangenen Jahr, wie alltagstauglich diese Produkte sind: Auf einer 45 Kilometer langen Teststrecke in Wien, die ein Autobahndreieck, einen Teil des Stadtgebiets sowie eine Verknüpfung mit dem öffentlichen Verkehr beinhaltete, installierten die Projektpartner auf dem „Testfeld Telematik“ Hunderte von Sensoren und Kameras, die die aktuelle Verkehrssituation erfassen. Dann wurden rund 50 Testfahrer auf die Straße geschickt. Sie lieferten mit ihren Fahrzeugen in Echtzeit Positionsdaten an die Verkehrsleitzentrale und erhielten im Gegenzug Geschwindigkeitshinweise, Warnungen vor gefährlichen Situationen wie Öl auf der Fahrbahn, Stau- und Baustellenwarnungen, Reiseinformationen, Wetterdaten sowie Informationen zu Flugverspätungen, Auslastung von Park&Ride-Anlagen und Umsteigeempfehlungen zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Dabei interessierte nicht nur, ob die neue Technologie funktioniert, sondern vor allem, ob der Nutzer diese akzeptiert, welche und wie viele Informationen er überhaupt erhalten soll, um ihn bestmöglich zu unterstützen, aber nicht zu sehr vom Verkehrsgeschehen abzulenken.

Wie die Nutzer mit dieser neuen Wissensfülle umgehen, werten die Projektpartner derzeit aus. Die Befragungen der Testfahrer sollen wichtige Informationen zur Nutzerakzeptanz liefern – eine noch klarere Sprache sprechen allerdings die automatisch aufgezeichneten Touren mit sekundengenauen Angaben darüber, wann welche Information im Fahrzeug angekommen ist. Erste Ergebnisse geben Anlass zum Optimismus: Die Rückmeldungen der Testfahrer fielen positiv aus. Voraussetzung ist jedoch die Qualität der Anwendungen – denn schon wenige falsche Hinweise reichen aus, um das Vertrauen in die neue Datenquelle zu gefährden. Hoch im Kurs stehen aktuelle Informationen zur Verkehrslage und Gefahrenwarnungen sowie Hinweise zum innerstädtischen Verkehr – darunter beispielsweise die Angabe „Grüne Welle bei 50 km/h“.

Die Amsterdam-Gruppe

Damit verschiedene Fahrzeugtypen und die Infrastruktur jedoch auch region- und länderübergreifend miteinander reden können, braucht es Kommunikationsstandards und gemeinsame Schnittstellen. Unterschiedliche Interessensgruppen müssen an einen Tisch gebracht werden: Fahrzeughersteller, Hersteller von Verkehrsinfrastruktur und von mobilen Endgeräten. Alle benötigten Technologien sind vorhanden, etwa Mobilfunkstandards oder GPS. Eine einheitliche Kommunikationsfrequenz von 5,9 GHz ist exklusiv für diese Anwendungen festgelegt. Vertreter aus Automobilindustrie und Industrie schlossen sich im Car2Car-Konsortium zusammen, nicht nur, um Kommunikationsstandards zu entwickeln, sondern sie verpflichten sich auch, die kooperativen Technologien ab 2015 in Neufahrzeugen einzusetzen. Die Vertreter des Konsortiums bilden gemeinsam mit Infrastrukturbetreibern die Amsterdam Group. Sie definieren gemeinsam Anwendungen, die in einer ersten Phase zum Einsatz kommen können.

Damit sind die Grundlagen für den Dialog zwischen Auto und Straße geschaffen. Der nächste Schritt: die flächendeckende Einführung. Genau dies soll nun geschehen. Zwischen Rotterdam, Frankfurt am Main und Wien entsteht derzeit der zentraleuropäische „Car2X-Korridor“, in dem die Niederlande, Deutschland und Österreich mit Partnern aus der Industrie kooperative Technologien auf die Straße bringen wollen. Eine entsprechende Absichtserklärung unterzeichneten die jeweiligen Verkehrsminister im Juni 2013. Gemeinsam wollen sie einen Zeitplan für die Einführung der ersten Anwendungen entwickeln und die Grundlage für eine harmonisierte Schnittstelle zu den Fahrzeugen vorbereiten. Es geht aber auch um die tatsächliche Umsetzung erster Anwendungen: Baustellenwarnungen und die Erfassung der Verkehrslage durch Autos machen den Anfang, für weitere Anwendungen wollen die drei Länder eine gemeinsame Einführungsstrategie entwickeln.

Ab 2015 sollen Baustellenanhänger auf dem Korridor per Mobilfunk oder über WLAN ihre Position und die Spurführung an der Baustelle in die Autos und an Verkehrszentralen senden. Fahrzeuge übermitteln ihre Position, Wetterverhältnisse und ihre Geschwindigkeit – ebenfalls, je nach Verfügbarkeit, über WLAN oder Mobilfunk und mit einem Zeitstempel versehen.

Derzeit sind die Vorentwicklungen im Gange, in Deutschland rund um Frankfurt am Main, in Österreich im Rahmen des Projekts Eco-AT, in den Niederlanden wird das Testfeld DITCM erweitert. Siemens beteiligt sich in Österreich im Rahmen von Eco-AT am Aufbau eines „Lebenden Labors“ in und um Wien und liefert Soft- und Hardware für die Kommunikation der Verkehrsteilnehmer. Dabei geht es vor allem um die Datensicherheit: Geplant ist, alle verkehrstechnischen und sicherheitsrelevanten Nachrichten mit einem standardisierten PKI (Public Key Infrastructure)-Schlüssel zu signieren, der die Gültigkeit der Meldungen sicherstellt. Die ID eines jeden Fahrzeugs wird anonymisiert, um die Vertraulichkeit der Kommunikation zu gewährleisten. Basierend auf diesen Erkenntnissen soll dann der gesamte österreichische Korridor flächendeckend mit den kooperativen Systemen ausgestattet werden. Künftig soll es dann auch möglich sein, Verkehrsschilder und Ampelsignale ins Fahrzeug zu übermitteln, ebenso Abfahrtszeiten des öffentlichen Personennahverkehrs und freie Park&Ride-Stellplätze.

Damit sind die kooperativen Systeme endgültig den Kinderschuhen entwachsen. Sie müssen sich bald schon im Alltag bewähren. Wenn dies gelingt, kommen wir unserem Ziel, den Verkehr sicherer, effizienter und umweltfreundlicher zu machen, ein ganzes Stück näher.

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