Anlagenbau & Betrieb Modular in den Wettbewerb

ABB AG publish-industry Verlag GmbH

Bild: Fraunhofer Institut
16.09.2014

Die Zukunft gehört der modularen Anlage, darin sind sich Experten einig. Doch wie sieht der Stand der Technik aus und welche Herausforderungen warten auf Anlagenbetreiber und Automatisierer? Fest steht: Die deutsche Industrie muss wettbewerbsfähiger werden. Modulare Anlagen dürfen dafür keine Zukunftsmusik bleiben.

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Sommer 2010 in Rheinfelden: Die Mitarbeiter von Evonik Industries erwarten einen LKW. Dieser liefert nicht etwa Rohstoffe für die Produktion im Chemiewerk. Nein, er bringt einen Container, der eine komplette, funktionsfähige Produktionsanlage erhält. Ein Kran setzt dazu den 24 t wiegenden Frachtcontainer an seinen neuen Arbeitsplatz. Die Inbetriebnahme kann beginnen. Nur wenige Wochen später wird das erste Produkt abgefüllt: Hexachlordisilan.

Modularen Anlagen, in diesem Beispiel einer modularen Kleinanlage in einem Container, gehört die Zukunft der Industrie. Experten sind sich darin einig, immerhin bieten dezentrale Anlagen zahlreiche Vorteile: Mit dem modularen Ansatz können die Planung, die Beschaffung und der Bau von Anlagen vereinfacht werden. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Realisierungszeit und -kosten. Kurzum: Der Anlagenbau wird schneller. Außerdem sind modulare Anlagen äußerst flexibel – bezüglich Produktionsort, Anlagenkapazität, produzierbarer Produkte und Chargengrößen. Mit containerbasierten Anlagen, die die erforderliche Infrastruktur wie Energie- und Medienversorgung bieten, ist außerdem ein schneller Wechsel des Produktionsorts möglich – vorausgesetzt die Anlage ist für unterschiedliche Klimabedingungen ausgelegt und transportabel.

Ein weiterer, großer Pluspunkt für modulare Anlagen ergibt sich aus einer aktuellen Studie der VDMA-Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau und der Unternehmensberatung maexpartners: Der Wettbewerbsdruck im Großanlagenbau hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen, chinesische Anbieter werden als weltweit stärkste Herausforderung wahrgenommen. Um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter zu erhöhen, setzen Anlagenbauer deshalb verstärkt auf Modularisierung und Standardisierung. Klaus Gottwald, VDMA-Referent der Arbeitsgemeinschaft, erläutert: „Unsere Studie zeigt, dass die Branche dieses Thema als wichtigen Baustein ihrer Wettbewerbsstrategie erkannt hat.“ Die Unternehmen wüssten um die Vorteile der Standardisierung und Modularisierung – und arbeiten daher an der Optimierung ihrer Methoden, um die in der Studie genannten Einsparpotenziale zu realisieren. „Nach wie vor gibt es hier noch erhebliches Potenzial.“

Doch wie weit ist der aktuelle Stand der Technik bezüglich modularer Anlagen? Welche Herausforderungen warten noch auf die Industrie, wo besteht Nachholbedarf?

Modulare Anlagen seien aufgrund ihrer Größe und Konzeption hauptsächlich für die Herstellung von Fein- und Spezialchemikalien sowie pharmazeutischen Wirkstoffen geeignet, meint Ulrich Krtschil. Der Gruppenleiter für Prozess- und Anlagenentwicklung am Fraunhofer ICT-IMM verweist in diesem Zusammenhang auf die VCI-Prognos-Studie „Die deutsche chemische Industrie 2030“. Darin wird von einer wachsenden Chemienachfrage in den Industrieländern bis 2030 ausgegangen, wobei diese vor allem durch eine Nachfrageverschiebung zugunsten hochwertiger und hochpreisiger innovativer Chemikalien stattfinden soll. Auf Dauer könne die Chemieproduktion in den Hochlohnländern aber nur dann wettbewerbsfähig bleiben, wenn die Entwicklungszeit für neue Produkte bis zum Produktionsstart verkürzt, auf Marktnachfragen schneller reagiert sowie Entwicklung und Produktion kostengünstiger werden würden. Das Schlüsselwort lautet auch hier – wie bei der VDMA-Studie: modulare Anlagen.

Modulare Anlagen in der Pharmaindustrie

Die vom Fraunhofer-Institut koordinierten EU-Projekte CoPiride und Polycat haben sich deshalb auch dieses Themas angenommen. In beiden Projekten wurden modulare chemische Anlagen entwickelt, gebaut und zu Demonstrationszwecken eingesetzt. In CoPiride wurden zwei modulare Anlagen der Feinchemie als containerbasierte Anlagen im von Evonik entwickelten Evotrainer realisiert. Mit der Flow Miniplant von Microinnova wurde ein weiteres modulares Konzept für Kleinanlagen entwickelt. In Polycat wurde ein Evotrainer für die pharmazeutische Wirkstoffsynthese am Fraunhofer-Institut aufgestellt und in ihm die wiederum modular aufgebaute Demonstrationsanlage mit Reaktionseinheiten verschiedener Hersteller installiert. Beide Projekte sind mittlerweile abgeschlossen, CoPiride seit Ende August 2013 und Polycat seit Ende März 2014 – und das Ergebnis ist vielversprechend: So wurden beispielsweise in CoPiride die beiden Evotrainer erfolgreich in Marl in Betrieb genommen und eine Flow-Mini­plant für die Epoxidierung von Sojaöl eingesetzt, außerhalb des Projekts auch für die Propoxylierung bestimmter Alkohole.

Ein weiteres von der EU gefördertes Projekt heißt F3-Factory, koordiniert von Bayer Technology Services (BTS). Die entscheidenden Demonstrationsexperimente fanden bei Invite statt, einer Forschungsgesellschaft der TU Dortmund und BTS. 26 Unternehmen, darunter sieben Chemie- und Pharmaunternehmen, waren daran beteiligt. Im Mittelpunkt standen auch hier modulare Anlagen, die in Container integriert wurden. Mit der mobilen Kleinanlage hat Bayer erfolgreich die zweistufige, kontinuierliche Herstellbarkeit einer Zwischenstufe eines Wirkstoffs gegen Krebs demonstriert, welcher sich derzeit in der klinischen Erprobung befindet. Seit Abschluss des F3-Factory-Projekts laufen in den Teilkonzernen Bayers diverse Projekte zur Identifizierung und Bewertung erfolgversprechender Anwendungsfälle. Im Frühjahr 2014, nur wenige Monate nach Projektende von F3-Factory, konnte beispielsweise eine modulare, kontinuierlich betriebene Pilotanlage in einem Teilkonzern in Betrieb genommen werden.

Automatisierer sind gefragt

Diese Projekte sind nur einige von vielen. Sie zeigen, dass Anlagenbauer im Bereich Modularisierung zwar schon aktiv sind, aber aktuell immer wieder auf Herausforderungen stoßen. Diese richten sich in erster Linie an Automatisierer, die noch einige Antworten und Lösungen liefern müssen. So ist es notwendig, systemneutrale Standards zu definieren und diese voranzutreiben. Denn mit den Anforderungen nach Flexibilität ist auch eine Herstellerneutralität der Leitsysteme verbunden, weiß Prof. Dr. Thomas Bieringer, Geschäftsführer von Invite. „Es ist nicht davon auszugehen, dass Module künftig immer mit Systemen des gleichen Herstellers automatisiert werden.“ Außerdem müssen die Lieferanten von Modulen eine einfache Integration der Module unterstützen. Für Bieringer steht fest: Die Wahl des Automatisierungssystems wird somit nicht nur nach der Leistungsfähigkeit beurteilt, sondern auch nach der Integrationsfähigkeit des Systems. Ein weiteres Problem betrifft ebenfalls die Leittechnik. „Bisherige modulare Anlagen werden mit zurzeit etablierten Leitsysteme automatisiert", erklärt Bieringer, „diese sind jedoch für Großanlagen ausgelegt, die üblicherweise zentral gesteuert werden.“ Für modulare Anlagen ist allerdings eine Verteilung der Intelligenz auf die Module von Vorteil, denn nur so könne eine schnelle und sichere Integration von Modulen zu einer Produktionsanlage realisiert werden.

Diese Probleme sind in der Automatisierungsbranche bekannt. Hier wird unterschieden in Module ohne Intelligenz, die also nur physikalische Daten liefern, und Module mit Intelligenz. „Module ohne Intelligenz sind derzeit noch gebräuchlicher“, weiß Axel Haller vom Global Cempetence Center Chemical der ABB Automation. Modulare Anlagen könnten aber bis zu drei Mal im Jahr umgebaut werden – sofern intelligente Module verwendet, müsste dann nur jedes Mal die Verschaltung und Ablaufsteuerung neu erstellt werden. Bei nicht-intelligenten Modulen kann es hingegen notwendig sein, die im System integrierte Automatisierungslogik neu anzulegen.

Als Bremse für die Modularisierung sehen sich die Automatisierer aber nicht. Axel Lorenz, Leiter für Prozessautomatisierung bei Siemens, wehrt sich gegen diesen Vorwurf. Es dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass „die Automatisierung in den letzten 50 Jahren ein flottes Tempo hingelegt hat: von proprietären zu offenen Systemen basierend auf allgemein verbreiteten Betriebssystemen, die Nutzung von Internetstandards und Ethernet in der Kommunikation, mit Funktionen wie Condition Monitoring sowie mit Konzepten zur vereinheitlichten und optimierten Bedienerführung“. Außerdem wären Leitsysteme wie Simatic PCS 7 von Siemens schon heute für die Modularisierung ausgelegt – und über standardisierte Schnittstellen würde auch diskutiert.

Trotzdem weiß Axel Lorenz, dass noch ein Stück Arbeit vor der Automatisierungsbranche liegt. Das Thema Standardisierung ist auch innerhalb der Verfahrenstechnik noch längst nicht abgeschlossen. „Wir als Hersteller der Automatisierungstechnik benötigen deren Input“, betont Lorenz. Denkbar wäre beispielsweise ein gemeinsames Konzept mit Modulen als funktionale Einheiten im Engineering oder einer integrierten Werkzeugkette. Auch müssten die Erfahrungen aus den aktuellen Forschungsprojekten und die Piloten zu modularen Anlagen schrittweise in die Serienphase überführt werden. „Wir müssen einfach mit einer Teilanlage anfangen und dann weitermachen", so lautet Lorenz' Fazit.

Hand in Hand in die Zukunft

Ganz so einfach ist dies aber nicht. Derzeit scheint keiner der Beteiligten bereit zu sein, im Alleingang den ersten Schritt zu gehen, meint Axel Haller von ABB. „Umso wichtiger ist es, am Ball zu bleiben.“ Denn nur gemeinsam, Anlagenbetreiber und Automatisierungshersteller vereint, kann die Zukunft der modularen Anlage gestaltet werden.

Dass sich eine modulare Anlage lohnt, zeigt unter anderem Evonik: Mehrere Containergenerationen sind bereits entstanden. Zurzeit läuft ein weiteres von der Europäischen Union gefördertes Kleinanlagenprojekt: In Hanau steht ein noch leerer Container bereit. Das Unternehmen wird darin mit einem Pharmahersteller die Infrastruktur zur Herstellung eines Krebsmedikaments entwickeln.

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