Industrie 4.0 und das Internet der Dinge bezeichnen technologische Entwicklungen, die grundlegend und richtungsweisend sind, Wertvorstellungen und Gewohnheiten ändern und Potenzial für neue Geschäftsfelder bieten. Analog wird in der Fachwelt der Begriff Wasserwirtschaft 4.0 geprägt. Er umschreibt die Vision einer vernetzten, digitalisierten und automatisierten Wasserwirtschaft, die mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik effiziente Technologien für wasserwirtschaftliche Herausforderungen liefert. Entsprechende Bausteine sind die bidirektionale Durchgängigkeit des Datenaustauschs zwischen der Feld- und der Betriebsleitebene, Automatismen zur Handhabung großer Datenmengen oder interaktive Benutzeroberflächen, die aggregierte Prozessinformationen darstellen.
Der Betreiber des Chemieparks Bitterfeld-Wolfen greift diese Aspekte auf und setzt sie im Zuge der Modernisierung des Abwassermanagements um. Damit hält Wasserwirtschaft 4.0 Einzug in die betriebliche Praxis. Der im Großraum Halle/Leipzig/Dessau gelegene Chemiepark ist mit einer Gesamtfläche von rund 1.200 Hektar und etwa 11.000 Beschäftigten einer der größten Chemiestandorte in Deutschland. Von den insgesamt knapp 360 ansässigen Unternehmen sind etwa 50 Chemiebetriebe des produzierenden Gewerbes. Die internen Stoffkreisläufe im Chemiepark sichern den Unternehmen beste Produktionsbedingungen mit hoher Versorgungssicherheit zu. Dazu gehört die effiziente Vermeidung und die Beseitigung von Rest- und Abfallstoffen. Die Infrastruktur des Chemieparks bietet den Unternehmen neben der Versorgung mit Trink- und Brauchwasser die fachgerechte Entsorgung von Reinabwasser – Niederschlags-, Kühl- und gering belastetes Grundwasser – und Schmutzabwasser, das sich aus Produktions- und Sanitärabwasser und höher belastetem Grundwasser zusammensetzt.
Anforderungen an das Abwassermanagement
Je nach Herkunftsbereich unterscheiden sich die Abwässer hinsichtlich der Inhaltsstoffe, der jeweiligen Konzentrationen und des Abwasseranfalls. Deshalb müssen die Abwassergebühren betriebs- und produktionsspezifisch und damit verursachergerecht erhoben werden. Die Standortgesellschaft ermittelt die Abwasserentgelte der einleitenden Betriebe und nutzt dazu ein Abwassermanagement. Es überwacht und bewertet die relevanten Abwasserströme an repräsentativen Messpunkten des Abwassernetzes. Außerdem erfasst es erforderliche Daten, wertet diese aus und dokumentiert sie.
Die Kontrollpunkte des Überwachungsnetzes sind dabei drei unterschiedlichen Überwachungsebenen zugeordnet. Dazu gehören Übergabepunkte der Ansiedlerfirmen, Knotenpunkte innerhalb der Abwassersysteme und behördliche Kontrollpunkte bei der Gewässereinleitung. Das Abwasserentsorgungsnetz ist flächendeckend mit derzeit 98 vollautomatischen Probenehmern ausgestattet, die je nach Messort mit zusätzlicher Messtechnik ausgerüstet sind. Typische Messparameter sind der pH-Wert, die Leitfähigkeit, die Temperatur, der Sauerstoffgehalt und der Durchfluss.
In der Praxis überwachen die Probenehmer kontinuierlich die Qualität und den Durchfluss der Abwasserströme und füllen ereignisorientiert sowie mengenproportional Rückstellproben ab. Der Grad der Verschmutzung wird im Labor analysiert und dient als Basiswert für die Berechnung der Abwasserentgelte. Darüber hinaus dienen die Daten der Überwachung der Messgeräte und Probenehmer für einen störungsfreien Betrieb.
Zwar sind die Geschäftsabläufe des Abwassermanagements auch ohne moderne digitale Infrastrukturen beherrschbar. Allerdings lassen sich weitere Ziele, wie Zeitersparnis, Einsparung von Betriebsmitteln und auch die Steigerung der Arbeitsplatzattraktivität, nur schwer umsetzen. Hinzu kommt der mitunter hohe Aufwand für Außeneinsätze etwa für die händische Probenahme oder Wartung. Die manuelle Dokumentation und die damit verbundene, unvermeidbare Fehleranfälligkeit limitierten zudem bisher die Möglichkeiten, das Abwassermanagement effizienter zu gestalten.
Betriebserfahrungen kombiniert mit der Digitalisierung und Informations- und Kommunikationstechnik halfen in Bitterfeld-Wolfen dabei, den Betrieb zu verbessern. Zu den Vorteilen der Modernisierung gehören ein digitalisiertes und erweiterbares Datenmanagementsystem, eine einheitliche Datenstruktur, die ereignisgesteuerte, automatische Entnahme und Zuordnung von Rückstellproben, die Visualisierung von Messwerten, Kennzahlen und Statusmeldungen und anwenderspezifische, konfigurierbare Darstellungsvarianten.
Das digitalisierte Informationssystem
Im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen entstand im Chemiepark ein digitalisiertes wasserwirtschaftliches Informationssystem, das diese Anforderungen in die Praxis umsetzt. Die Lösung bestand in der digitalen Verknüpfung der Probenahme- und Analysestationen und der Entwicklung einer Software zur nachgeschalteten Datenhaltung, Datenanalyse und Visualisierung von Prozessinformationen und Betriebskennzahlen. Auf der Feldebene befinden sich die Probenahme- oder Messstationen, die über das Areal des Chemieparks verteilt sind. Sie sind über WLAN mit einem Industrie-PC verbunden. Dort ist eine Private Cloud installiert, die über das Feldbusprotokoll Modbus/TCP alle Daten aus der Feldebene aufnimmt.
Die Web-Anwendung besteht aus modularen Softwarekomponenten, in denen die Speicherung und Auswertung der Daten, die Koordination des Datenflusses sowie die Darstellung aufbereiteter Messdaten und Betriebsinformationen stattfindet. In der Cloud werden zunächst die Modbus-Daten der Feldgeräte durch einen OPC-UA-Server für die weitere Verarbeitung in ein OPC-UA-Informationsmodell übersetzt. Mit einer für den Kunden entwickelten Integrationskomponente erfolgt die Ablage der Zustands- und Messdaten in eine MongoDB (abgeleitet vom englischen humongous, gigantisch) – ein dokumentenorientiertes Datenbanksystem, das große Datenmengen speichert.
Neben den Messwerten der verschiedenen Sonden wie Temperatur, pH-Wert, Leitfähigkeit und Durchfluss werden auch Informationen über den Zustand der Feldgeräte gespeichert. Auf diese Weise kann zentral für jede Station geprüft werden, ob Betriebsfehler vorliegen oder während des Normalbetriebs Probenbehälter gewechselt werden müssen. Die Benutzeroberfläche des Systems ist als Web-Anwendung mit eigener Benutzer- und Berechtigungsverwaltung realisiert. Diese Aufgaben sind in der Benutzerschnittstelle umgesetzt, die über zwei große Funktionsblöcke verfügt.
Das OPC-UA-Gerätemanagement gestattet die Einbindung neuer Feldgeräte und verwaltet den Feldgerätepool. Jedes Gerät besitzt eine eindeutige IP-Nummer. Bei der Neuanlage einer Probenehmer- oder Messstation werden für jeden Sensor die gültigen Betriebsbereiche hinterlegt. Werden diese überschritten, können Alarme generiert werden. Zudem werden die Geokoordinaten des Feldgerätes erfasst, um sie in einer Kartenansicht georeferenzieren zu können.
Datendurchgängigkeit und -visualisierung
Eine Herausforderung bei der Entwicklung von Informationssystemen für die Wasserwirtschaft 4.0 besteht in der Aufbereitung und Verdichtung großer Datenmengen und der Darstellung ausgewählter und aggregierter Informationen. Neben der Visualisierung von Feldinformationen auf der Betriebsleitebene soll der Datenzugriff in umgekehrter Richtung möglich sein, um im Bedarfsfall von der Managementebene Detailinformationen aus untergeordneten Darstellungsebenen abrufen zu können. Dafür wurden konfigurierbare Dashboards entwickelt, die Feldgerätedaten, Prozess- und Standortinformationen sowie daraus abgeleitete Betriebskennzahlen mit unterschiedlichen Detaillierungsgraden in Übersichtsdarstellungen zusammenfassen.
So zeigt das Übersichts-Dashboard auf einer Landkarte des Chemieparks den Messort der Feldgeräte, den Gerätestatus in Ampelfarben sowie vom Nutzer wählbare Feldgeräteinformationen wie Identifikationsangaben oder Zeitstempel in Tabellenform an. Ein Klick auf das Gerätesymbol in der Karte führt in eine Detailansicht, die Nutzern weitere Informationen zu der Messstelle oder dem dort installierten Feldgerät bietet. Dazu gehören der Gerätestatus oder historische Daten.
Neben Übersichts- und Detailansichten sind auch individuelle oder aufgabenspezifische Dashboards für unterschiedliche Benutzergruppen verfügbar. Hierfür bietet die Software Reportkacheln, die als modulare Ansichtselemente einzelne Informationen darstellen und per Drag & Drop zu einem Dashboard kombiniert werden können. Dieses kann für eine Probenahme- oder Messstation die verschiedenen Messwerte zusammenfassen oder von verschiedenen Messorten ein und denselben Parameter vergleichen. Für die Bewertung der Geräteverfügbarkeit oder zur Planung von Serviceeinsätzen lassen sich Gerätestörungen und Messbereichsüberschreitungen auch tabellarisch darstellen.
Die Vorteile von Wasserwirtschaft 4.0
Das Informationssystem bietet für das Abwassermanagement viele Vorteile, zum Beispiel das Datenmanagement. Es umfasst die Erfassung, Klassifizierung, Archivierung und Identifikation von Kunden-, Abwasser- und Gerätedaten. Durch die Vernetzung der Feldgeräte mit dem zentralen Archivsystem und automatisierten Abläufen ist es möglich, Daten abzurufen, zuzuordnen und zurückzuverfolgen. Dies reduziert den zeitlichen und personellen Aufwand für das Datenmanagement und erhöht gleichzeitig die Datenqualität. Bei Ereignisfällen wie besonders hohem Abwasseranfall entnimmt der Probenehmer automatisch Rückstellproben für die weitergehende Analyse im Labor. Eine manuelle Probenahme vor Ort entfällt. Außerdem erfolgt die Probenahme schneller und ist damit für das Ereignis repräsentativ.
Auch beim Dokumentations-, Berichts- und Meldewesen lassen sich der Zeitaufwand und die Fehlerhäufigkeit verringern. So erfolgen die Erstellung von Mess- und Probenahmeprotokollen und die Meldung und Dokumentation von Grenzwertüberschreitungen zentral und automatisch. Der Betreiber erhält die Berichte automatisch und kann sie an die Einleiter und das Labor übergeben. Damit ist eine wesentlich schnellere Entscheidungsfindung möglich.
Die kontinuierliche Überwachung und Bewertung des Feldgerätestatus ermöglicht die Optimierung der Instandhaltungsstrategie. Dabei wird zwischen Warnmeldungen (etwa Schlauch wechseln oder Wartung fällig) und Störmeldungen (Ausfall der Messungen, allgemeine Störung) unterschieden. Mit diesen Zustandsinformationen kann die Zentrale die Instandhaltung vorausschauend planen und bedarfsgerecht ausführen. Dadurch werden reaktive Einsätze minimiert.
Mit dem Berichtswesen lassen sich kundenspezifische Abwasserabgaben automatisch ermitteln und entsprechende Berichte erstellen. Fallen aufgrund eines betrieblichen Ereignisses erhöhte Abwassergebühren an, können diese unmittelbar erhoben und in Rechnung gestellt werden. Darüber hinaus ergibt sich ein nicht unmittelbarer Nutzen für die Abwasserreinigung im Gemeinschaftsklärwerk: Dieses wird bei besonderen Einleitsituationen, etwa verstärkter Schmutzwasseranfall oder Konzentrationsspitzen, in Kenntnis gesetzt und kann vorausschauend Maßnahmen ergreifen.
Auch in Zukunft warten viele Vorteile
Die Digitalisierung der Infrastruktur des Abwassermanagements hat einen hohen Automatisierungsgrad der Geschäftsprozesse erreicht. Dadurch konnten zahlreiche Betriebsabläufe hinsichtlich Materialeinsatz und Zeitaufwand vereinfacht und effizienter gestaltet werden. Verwaltungsprozesse wurden verschlankt. Die Rückverfolgbarkeit der erfassten Daten und die hohe Prozesstransparenz bedeuten ferner eine erhebliche Optimierung des betrieblichen Qualitätsmanagements und steigern die Ergebnisqualität.
Weitere Möglichkeiten der Prozessverbesserung bestehen in der Vernetzung mit Drittsystemen wie ERP-Systeme zur Controlling- und Unternehmenssteuerung. Mit direktem ERP-Zugriff wäre es möglich, Rechnungen an die einleitenden ansässigen Unternehmen automatisiert zu verschicken. Zudem könnten zukünftig Bestellungen von Verschleiß- und Ersatzteilen als Service für die Einleiter automatisch via ERP generiert werden. Dies würde die Lagerhaltung verringern und sicherstellen, dass alle erforderlichen Ersatzteile ständig verfügbar sind.
Zusätzliche Optimierungsmöglichkeiten bestehen für die Instandhaltungsstrategie mit der Visualisierung von Planungssichten für das Servicepersonal. Diese können sowohl Serviceleitern als auch Servicetechnikern dabei helfen, Einsätze noch gezielter zu koordinieren und durchzuführen.