Die theoretischen Grundlagen der Raman-Spektroskopie sind gut 100 Jahre alt, die ersten nennenswerten Anwendungen über 50 Jahre. Das ist eine lange Anwendungsgeschichte, aber das volle Potenzial ist längst nicht erreicht. Endress+Hauser treibt das Verfahren auch für den Einsatz in Downstream-Prozessen im industriellen Maßstab und im eichpflichtigen Verkehr voran. Die zentrale Frage für die Anwender: Wo bringt das analytische Verfahren handfeste Vorteile?
Zeit- und Kostenfaktor Analytik
Klassische Analyseverfahren, wie zum Beispiel NIR- oder Gaschromatographie oder HPLC-Laborverfahren, erfordern eine Probenahme und eine mehr oder minder aufwendige Analyse der Probe in einer Laborumgebung. Schon das Handling der Probe stellt eine mögliche Fehlerquelle dar. Ein üblicherweise geschlossenes System muss zur Probenahme geöffnet werden, was je nach beteiligten Medien hohe Sicherheitsanforderungen mit sich bringen kann, von der konstruktiven Auslegung der Anlage bis zur verhaltensbasierten Sicherheit.
Die Proben müssen mit hohem Aufwand in einer bestimmten Kondition gehalten werden, zum Beispiel in einer flüssigen oder gasförmigen Phase. Veränderungen beeinflussen die Validität der Messung und machen das Ergebnis im schlechtesten Fall unbrauchbar. Laboranalysen benötigen üblicherweise auch Verbrauchsmaterial, das nicht nur etwas kostet, sondern auch entsorgt werden muss. Kurz gefasst: Mehrstufige Analytik kann sich je nach Anwendungsfall beliebig komplex und kostenintensiv darstellen: Hier gibt es nach wie vor erstaunliche Einsparpotenziale.
Raman-Verfahren und Geräte
Spektroskopische Verfahren arbeiten mit der Analyse elektromagnetischer Wellen. Bei der Raman-Spektroskopie wird Laserlicht in bestimmten Frequenzen benutzt, um damit Feststoffe, Flüssigkeiten oder Gase zu bestrahlen. Ein sehr kleiner Teil des eingestrahlten Lichts – 10-7 bis 10-8 der eingestrahlten monochromen Photonen – wird durch quantenmechanische Effekte in den bestrahlten Stoffe so moduliert, dass zusätzliche Wellenlängen im Spektrum des Streulichts auftreten. Die messbaren Verschiebungen sind typisch für die Stoffe, an denen sich das Licht streut, genauer, sie sind charakteristisch für bestimmte Moleküle. Der Abgleich mit einer Bibliothek von Substanzen gestattet dann sowohl qualitative wie quantitative Aussagen über die untersuchten Stoffe. Das Verfahren erlaubt die Erkennung und Quantifizierung der Bestandteile von Stoffgemischen und insbesondere auch von Begleitstoffen.
Raman-Systeme bestehen aus einer Sonde mit einem optischen System, einer bis zu etwa 500 m langen Glasfaserleitung und dem damit angebundenen Analysator mit der entsprechenden Analyseeinheit und Software. Ein Raman-Gerät kann je nach Typ mehrkanalig, das heißt mit mehreren Sonden arbeiten, und jede Sonde kann für eine von drei möglichen Laser-Wellenlängen ausgelegt sein; der Analysator kann mehrere Stoffe simultan mit einer Sonde erkennen.
Beispiel I: Brennwertermittlung von LNG
Der eigentliche Wert von Brennstoffen wie Flüssigerdgas (LNG) liegt in ihrem Energiegehalt. Das etablierte Verfahren für die Messung der Zusammensetzung von LNG bei einer eichpflichtigen Übergabe ist die Gaschromatographie mit Hilfe von Verdampfer-Systemen. Die European Gas Research Group (GERG) hat in einem mehrjährigen Projekt in einem LNG-Terminal im belgischen Zeebrugge ein Raman-System von Endress+Hauser parallel zu einem bewährten Gaschromatographie-Aufbau betrieben. Das Raman-System von bestand aus einer kryogenen Raman-Sonde vom Typ Rxn-41 mit einem angepassten Raman-Messgerät Rxn2. Der Analysator arbeitet mit optimierter Laser-Wellenlängen mit einer breiten spektralen Abdeckung. Das Gerät mit einem Kalibriergas getestet und nach ersten Testläufen mit anwendungsspezifischen Korrektur-Algorithmen modifiziert.
Die Sonde wurde ähnlich wie ein Messgerät fest in die LNG-Leitung integriert, um die Stoffzusammensetzung direkt im flüssigen Medium bei etwa –161 °C festzustellen. Die Reaktionsgeschwindigkeit und Stabilisierungszeit des Systems bei Medien- beziehungsweise Prozessänderungen wurden als sehr vorteilhaft bewertet, auch kleine Batches konnten so korrekt abgebildet werden. Das System zeigte keine Drift und eine sehr gute Wiederholgenauigkeit. Wartungsfrei im Betrieb erreichte das System eine Verfügbarkeit von über 99 Prozent. Außerdem waren die Ergebnisse unabhängig von Druck, Temperatur und Durchflussrate in der Leitung.
Die Abweichungen der Raman-Ergebnisse für die Zusammensetzung des LNG und die resultierende Berechnung des Brennwerts haben einerseits gezeigt, dass Gaschromatographen eine höhere absolute Genauigkeit bieten können, allerdings mit einem wesentlich höheren Aufwand. Gleichzeitig lag das Raman-System klar innerhalb der Toleranzen, die das maßgebliche GIIGNL Custody Transfer Handbook Version 6.0 vorgibt. Ein weiterer Vorteil: Das System arbeitet prinzipbedingt kontinuierlich und in Echtzeit. Die Technologie hat sich mit den positiven Ergebnissen der Studie für die Aufnahme in internationale Normen beziehungsweise die MID-Zertifizierung qualifiziert.
Beispiel II: biopharmazeutische Analyse
Die kontinuierliche Bestimmung mehrerer Stoffe mit Hilfe einer Raman-Sonde im Zeitverlauf bietet besonderes Potenzial, wenn das Verfahren in der Regeltechnik eingesetzt wird. Zum Beispiel in biotechnologischen Anlagen, die höchsten Sicherheitsstandards entsprechen. Probenahmen aus Bioreaktoren bilden immer ein unerwünschtes Kontaminationsrisiko, sodass die Pharmaindustrie nach anderen Wegen zu validen und effizienten Analysen in verschiedenen Prozessphasen sucht. Raman-Systeme können das leisten und zum Beispiel die Nährmedien, Stoffwechselprodukte, Zelldichte und produzierte Zielmoleküle kontinuierlich erfassen, auch in sehr geringen Konzentrationen.
Wenn kontinuierlich und in Echtzeit Daten mit einer sehr hohen Auflösung entstehen, können diese Daten natürlich auch zur Steuerung biotechnologischer Abläufe benutzt werden. Ein besonderer Vorteil ist, dass die beobachteten Substanzen direkt erfasst werden und nicht von anderen Größen wie beispielsweise Temperatur, Druck und pH-Wert abgeleitet werden müssen.
In der biopharmazeutischen Industrie ist der Zeitbedarf für die Entwicklung neuer Verfahren für die Herstellung von therapeutischen Wirkstoffen ein zentrales Thema. Die grundsätzlichen Verfahrensschritte sind oft schnell gefunden, die Optimierung der Prozesse hin zu einer wirtschaftlichen Produktivität ist dagegen schwierig. Viele wiederkehrende eng getaktete Probenahmen und Analysen mit verschiedenen Nachweismethoden für unterschiedliche Stoffe sind zu umständlich und zu statisch, um die Dynamik in einem Bioreaktor abzubilden. Genau das kann ein Raman-Analysator. In biotechnologischen Upstream-Prozessen haben Raman-Analysatoren seit ungefähr 20 Jahren ihren Platz gefunden, im hochskalierten Produktionsbetrieb steht die Technik erst am Anfang, zum Beispiel in Fermentationsverfahren.
Zwei wichtige Aspekte dabei: Raman-Spektroskopie ist grundsätzlich ein Verfahren, das die Anforderungen einer Process Analytical Technology (PAT) erfüllt, also der Qualitätssicherung und Überwachung der pharmazeutischen und biopharmazeutischen Produktion – das betrifft die Downstream-Seite. Gleichzeitig bietet das Verfahren beim Prozessdesign – die Upstream-Seite – eine kaum zu überschätzende Hilfe, wenn es um Quality by Design (QbD) geht.
Noch kaum realisierte Potenziale
Den Sprung aus Wissenschaft und Forschung hat die Raman-Spektroskopie noch nicht ganz geschafft, aber die Entwicklung beschleunigt sich zusehends. Endress+Hauser treibt die Technologie in verschiedenen Branchen voran, oft in Kooperationen und Entwicklungspartnerschaften. Die Raman-Spektroskopie ist ein so universelles Verfahren, dass das Spektrum der möglichen Anwendungen kaum einzuschätzen ist.
Allerdings: Nicht für jeden Anwendungsfall ist die Raman-Spektroskopie die Technik der Wahl. Wo eine Offline-Lösung reicht, um reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen und die jeweils relevanten Normen und Vorschriften zu erfüllen, gibt es ausgesprochen sinnvolle Alternativen. Ihr volles Potenzial kann die Raman-Spektroskopie da ausspielen, wo inline, in Echtzeit und kontinuierlich qualitative und quantitative Daten erhoben werden müssen, die sicherheitsrelevant oder kostenrelevant sind, sei es im Prozessdesign, in der Prozessteuerung oder in der Messtechnik, wie oben am Beispiel LNG beschrieben. PAT und QbD sind Stichworte, die nicht nur in der pharmazeutischen Industrie eine Rolle spielen. Und nicht zuletzt: In anspruchsvollen Anwendungsszenarien kann Raman den Aufwand und die Betriebskosten alternativer Analyseverfahren signifikant unterbieten.