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Wartung und Sicherheitscheck Flinker Frühjahrsputz im Chemiewerk

TÜV SÜD

Große Teile des Chemiewerks in Böhlen waren beim Turnaround eingerüstet. Vorne verläuft die Rohbenzin-Pipeline.

Bild: TÜV Süd
09.09.2016

In nur sechs Wochen konnte der Turnaround im Werk Böhlen abgeschlossen werden. Bei dem 92 Millionen Euro teuren Projekt war viel Erfahrung gefragt, um es fristgerecht abzuwickeln und Betriebssicherheit zu gewährleisten.

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Bei einem Turnaround wird die gesamte Chemie-Anlage heruntergefahren, um Inspektionsaufgaben, Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten sowie Sicherheitsprüfungen erledigen zu können. Diese Vorgehensweise wird auch als Stillstand, Großabstellung oder Shut Down bezeichnet. Dabei beschreibt der Begriff Turnaround genau das, was tatsächlich geschieht: Jedes einzelne Teil der zu prüfenden Anlage wird einmal umgedreht, also ausgebaut, gewartet und wieder zusammengebaut. Der Naphtha-Cracker, das Herzstück des Olefinverbundes, sowie Kompressoren, Pumpen und Turbinen sind dann zwar außer Betrieb, dafür arbeiten deutlich mehr Menschen an der Anlage als während des regulären 24-Stunden-Betriebs. Ein Turnaround bedeutet also genau das Gegenteil von Stillstand. Wer glaubt, nach wenigen Handgriffen und Maschineneinsätzen sei die Anlage wieder einsatzbereit, der irrt gewaltig: Im Dow-Chemiewerk in Böhlen (Sachsen) waren 25.000 einzelne Arbeitsschritte notwendig. Zu den Aufgaben zählten neben Reinigungen, Reparaturen und Erneuerungen die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsprüfungen, die von der TÜV Süd Chemie Service durchgeführt wurden.

Für das Großprojekt sind neben den rund 900 Dow-Mitarbeitern etwa 1.200 weitere Spezialisten nach Böhlen gekommen. Auf dem 320 ha großen Areal nahmen sie die Anlage Schritt für Schritt auseinander, prüften jede einzelne Komponente, reinigten diese und tauschten je nach Bedarf aus. Zu den ausrangierten Teilen gehören zum Beispiel Sensoren, Messgeräte oder Rohrleitungen. Das Heben und Positionieren schwerer Bauteile übernahmen Schwerlastkrane, die zu Dutzenden in den Himmel ragten. Für die Koordination der Mammut-Aufgaben hat Dow eigens einen Großparkplatz sowie ein Containerdorf errichtet – Beispiele, die zeigen, wie groß allein der logistische Aufwand ist.

Im Werk Böhlen wird im regulären Betrieb Rohbenzin weiterverarbeitet. Das Chemiewerk in der Nähe von Leipzig gehört zur Dow Olefinverbund, einer Tochter der amerikanischen The Dow Chemical Company. Das Rohbenzin gelangt über eine 430 Kilometer lange Pipeline aus dem Hafen Rostock nach Böhlen. In den 15 Brennöfen des Naphtha-Crackers wird es bei rund 800 °C in Kohlenwasserstoffverbindungen wie Ethylen oder Propylen aufgespalten, um anschließend in den Werken Schkopau und Leuna zu hochwertigen Kunststoffen weiterverarbeitet zu werden. Da der Naphtha-Cracker auch noch andere Aufgaben, wie beispielsweise das Bereitstellen von Prozessdampf, übernimmt, wird er als Herzstück des Chemiewerks und des gesamten Olefinverbundes von Dow in Mitteldeutschland bezeichnet.

Kontrolliertes Herunterfahren

Bei einem Turnaround kann die Anlage nicht von jetzt auf gleich abgeschaltet werden. „Allein um die laufenden Produktionsprozesse kontrolliert herunterzufahren, arbeitete ich mit meinem Team im Dreischichtbetrieb knapp zehn Tage rund um die Uhr“, sagt Jörg Friedrich, bei Dow als Leiter verantwortlich für den Betrieb des Naphtha-Crackers. Zwar wurden viele Anlagen, die vom Herzstück des Olefinverbundes abhängen, auch außer Betrieb genommen, aber nicht alle. Das war eine Herausforderung vor allem in Bezug auf die Sicherheit.

Für das Großprojekt waren sechs Wochen eingeplant. Kein Wunder, dass es 30 Monate lang vorbereitet und minutiös durchgeplant wurde. Der Hauptgrund für die akribische Planung ist die klare Anforderung, die Stillstandzeit so kurz wie möglich zu halten: Im regulären Betrieb erwirtschaftet das Werk einen Tagesumsatz in Höhe von einer Million Euro. Also ist Zeit Geld, denn wenn die Cracker-Anlage nicht arbeitet, verursacht das Tag für Tag extrem hohe Kosten.

Das Thema Sicherheit stand ganz oben auf der Agenda. Es galt zu prüfen, ob die Betriebssicherheit der Anlage nach dem Wiederhochfahren auch für die kommenden Jahre gewährleistet ist. Dies zu beurteilen, ist Aufgabe des Teams der TÜV Süd Chemie Service, das seit vielen Jahren bei den Sicherheitsüberprüfungen von Dow im Einsatz ist. Die Fachleute kennen die Abläufe und Anlagen wie ihre Westentasche. So auch Peter Goth, der seit knapp 35 Jahren im Werk arbeitet. Weitere TÜV Süd-Mitarbeiter sind aus anderen Chemieparks, wie Frankfurt-Höchst und Leverkusen, nach Böhlen gekommen. Der Einsatz des Teams aus 13 Fachleuten war nötig, um die zahlreichen gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen termingerecht abzuwickeln.

Langjährige Praxiserfahrung erforderlich

Die Sicherheitsüberprüfungen der TÜV Süd Chemie Service haben höchste Priorität als „legal related“, sind also gesetzlich gefordert. Geprüft werden zahlreiche Komponenten und Systeme der Anlage wie die Dichtigkeit der Druckbehälter. Auch das Korrosions-Monitoring steht ganz oben auf der Agenda. Im Rahmen dieses Turnarounds mussten die Stutzen von zehn Behältern ausgetauscht werden, insgesamt 100 Behälterstutzen. Um alles für die Betriebssicherheit richtig einschätzen zu können, ist langjährige Praxis- und Berufserfahrung in der chemischen Industrie eine Grundvoraussetzung. So ist es kein Zufall, dass fast alle Mitarbeiter des Teams über 40 Jahre alt sind. Wie wichtig fachliche Expertise ist, veranschaulicht Goth am Beispiel einer Schweißnaht: „Sie mag auf den ersten Blick unsauber erscheinen, doch die Naht ist hochwertige Handarbeit und nach Dutzenden Betriebsjahren noch immer integer.“ Für einen Betrachter, der nur die lupenreinen und gleichmäßigen Schweißnähte der modernen Vollautomaten kennt, ist das kaum vorstellbar.

Der Turnaround ist für Dow weit mehr als nur eine gesetzlich vorgeschriebene Sicherheitsüberprüfung. Dow-Mitarbeiter und Stillstandsleiter Reiko Hass sagt: „Die Innovationszyklen in diesem High-Tech-Bereich werden immer kürzer, gleichzeitig steigen die Anforderungen an die funktionale Sicherheit.“ Deshalb würde die Zeit, in der die Anlage ohnehin außer Betrieb ist, gleichzeitig für die Erneuerung von Anlagenteilen genutzt. „Insgesamt investieren wir bei diesem Turnaround rund 42 Millionen Euro. Und dies zusätzlich zu den Stillstandskosten von rund 50 Millionen Euro, die durch Umsatzeinbußen entstehen. Das ist ein hoher Einsatz, der aber notwendig ist für einen sicheren Betrieb.“ Schon ab der Phase, in der die Anlage wieder angefahren wird, denken alle Verantwortlichen bereits an den nächsten Turnaround in einigen Jahren.

Bildergalerie

  • Im Maschinenhaus des Crackers überprüften und justierten Arbeiter gerade den Läufer eines Kompressors.

    Im Maschinenhaus des Crackers überprüften und justierten Arbeiter gerade den Läufer eines Kompressors.

    Bild: Tüv Süd

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