Prozessautomation & Messtechnik Willkommen, Industrie 4.0


It‘s Namur-Time mit Integrated Engineering. Vorstand Wilhelm Otten meint: „Mit der Wahl dieses Themas haben wir den Nerv der Zeit getroffen.“

09.12.2013

So viel Einigkeit ist selten. Auf der Namur-Hauptsitzung bekommt der Sponsor viel Applaus für eine überzeugende Darstellung der Möglichkeiten, die unter dem Stichwort Industrie 4.0 zusammengefasst werden. Der Sponsor wiederum nickt heftig zu Alternativ-Ideen, präsentiert vom Namur-Vorstand Thomas Tauchnitz. Und selbst beim Thema Wireless weicht die Namur ihre Blockade-Haltung auf.

Halbzeit Namur-Hauptsitzung 2013. Vor dem gemütlichen Teil, dem abendlichen Dinner und dem Ausklang in der Bierklause liegt für Vorstand, Vertreter des Sponsors Siemens und die Presse noch eine Gesprächsrunde. Haben die anspruchsvollen Themen, die an diesem ersten Donnerstag im November diskutiert wurden, alle Beteiligten weich gemacht? Jedenfalls scheint der Namur-Vorstand äußerst entspannt, selbst bei Themen, bei denen einst schon mal auf den Tisch gehauen wurde, um ein striktes Nein und eine absolute Abgrenzung zu unterstreichen. Die drahtlose Kommunikation ist so ein Thema. Wireless - setzen wir erst ein, wenn es einen Standard gibt. Punkt. So hieß das früher an selber Stelle. Der heutige Namur-Vorstandssprecher Wilhelm Otten klingt ganz anders. Wenig habe die Verweigerungshaltung gebracht. "Wir haben daraus gelernt, dass wir unsere Anforderungen deutlich früher definieren müssen." Hans-Georg Kumpfmüller nickt dazu heftig. Früher habe es oft geheißen: Entwickelt ihr mal, wir sagen euch dann, ob wir�??s brauchen können, so der Siemens-Geschäftsführer des Bereichs Sensors & Communications. "Der Wireless-Einsatz ist derzeit noch homöopathisch", konstatiert Kumpfmüller. Otten dazu: "Natürlich setzen wir Wireless-Technik ein - da wo sie Sinn macht." Auch, wenn diese Aussage im Kontext dieser Namur-Hauptsitzung nur eine Randbemerkung bleibt - nach den früheren harschen Worten darf sie als historisch gelten.

Die Anforderungen früher definieren: Dem hat die Namur vor gut eineinhalb Jahren bereits Rechnung getragen, indem sie für ihre Hauptsitzung 2013 das Thema Integrated Engineering wählte. Der Begriff Industrie 4.0 war gerade erst aufgekommen, als Klammer für eine Hightech-Initiative der Bundesregierung. Ein cyber-physisches System sollte darin eine zentrale Rolle spielen. Cyber-physisch? Hört sich das nach Prozessindustrie an? Durchaus, meint Wilhelm Otten: "Mit der Wahl dieses Themas haben wird den Nerv der Zeit getroffen." Ein gewisses Risiko sei es gewesen, gesteht er ein. Doch wieder hat sich erwiesen: Mit der Festlegung der Namur-Hauptsitzungsthemen entwickeln diese eine gewisse Eigendynamik. Und so macht die Hauptsitzung selbst schwer zu fassende Schlagworte wie Integrated Engineering und selbst Industrie 4.0 salonfähig.

Sensor, Aktor, Steuerungssoftware: ein cyber-physisches System

Als schwierig wird das Thema aber doch empfunden von den Automatisierungsfachleuten der Prozessindustrie. Viele der 576 Teilnehmer drücken ihre Anerkennung für den Sponsor aus, sogar schon bevor der mit seinem Hauptvortrag loslegt. "Toll, dass Siemens sich da ran traut", das hört man öfter in den Pausengesprächen. Wer den Begriff "cyber-physisch" übersetzt, ist dann vielleicht nicht so überrascht, dass er vieles, was Siemens und die Namur mit dem Begriff Industrie 4.0 zusammenfassen, schon kennt. Ein System aus Software, Elektronik und mechanischen Bausteinen, die untereinander kommunizieren, Selbstdiagnose durchführen und sich gegenseitig selbst optimieren - in manchen Branchen mag das futuristisch klingen. In der Prozessindustrie aber stehen zahlreiche moderne Anlagen mit einem Netzwerk aus intelligenten Sensoren, dezentralen und übergeordneten Steuerungen sowie Leitsystemen und eingebundenen Aktoren wie Ventilen. Ein gutes Fundament. Auch integriertes Engineering ist heute schon möglich. Das verdeutlicht Kumpfmüller zusammen mit seinem Kollegen Eckard Eberle, CEO des Siemens-Bereichs Industrial Automation Systems. Der meint: "Wir brauchen einen konsistenten Datenpool über die gesamte Lebensdauer einer Anlage für alle Gewerke unabhängig vom Aufenthaltsort." Durch Parallelisierung der Arbeitsschritte im Anlagendesign soll künftig deutlich an Zeit gespart werden, sprich "schneller Geld verdient werden", wie Kumpfmüller übersetzt.

Und so geht es weiter - längs des Lifecycles einer Anlage: Die virtuelle Inbetriebnahme - auf Basis der Daten aus dem CAE-Tool - ermöglicht Optimierungen und Trainings, bevor die Anlage tatsächlich fertig ist. Die laufend aktualisierte Anlagendokumentation während des Betriebs stellt jederzeit den aktuellen Zustand dar und erleichtert so Modernisierungen. Advanced Process Control wird unterstützt. Die papierlose Produktion in regulierten Bereichen wie der Pharmaindustrie rückt mittels eMBR (electronic Master Batch Records) in greifbare Nähe. Das alles ist nicht völlig neu. Doch Eberle und Kumpfmüller verdeutlichen dadurch gerade: Industrie 4.0 ist alles andere als abstrakte Theorie, sondern längst real.

Futuristisch dagegen wirken Beispiele wie die Einbindung von Mittel- und Hochspannungsanlagen ins Prozessleitsystem. So soll das Bedienpersonal die Anlage künftig energetisch optimal fahren können. Prädiktive Instandhaltung, die bisher teure Zusatzsensorik erforderte, kann ebenfalls durch einen integrierten Ansatz unterstützt werden, bei dem die Daten aus Engineering und Produktion für das Instandhaltungs-Tool genutzt werden. Endgültig nach Zukunft riecht das "Head-mounted Device", mit dem der Instandhalter durch die Anlage geht; alle Infos zum Gerät in Blickrichtung hat er über eine Brille direkt vor Augen. Oder die Funktion Walk-Inside, mit der ein virtueller Instandhalter schon einmal in der 3D-Anlagendarstellung Reparaturen ausprobiert, bevor sie der reale im Feld wirklich durchführt. Das zu ersetzende Bauteil passt nicht durch die existierende Lücke im Rohrleitungsgewirr? Das stellt der Instandhalter in Zeiten von Industrie 4.0 schon fest, bevor er nur einen Schritt aus seinem Büro getan hat.

"Die Prozessautomation ist beim Thema Integrated Engineering weiter als die Fabrikautomation", urteilen Kumpfmüller und Eberle abschließend. Ihre Darstellung fußt auf den Siemens-Systemen Comos und PCS7, mit denen heute schon Integrated Engineering ansatzweise möglich ist. Das zeigt Peter Schölers Beispiel, der bei Wacker Integriertes Engineering bereits lebt und damit weitgehend zufrieden scheint: Projekte wickelt er bereits seit 2003 mit Como PT ab. Unterschiedliche Fachbereiche und auch Partnerfirmen wurden dabei eingebunden. Und doch fordert er: Die Performance der Systeme muss Siemens verbessern. "Die haben wir bereits ausgereizt."

Siemens wird das lösen. Dennoch wollen viele Namur-Vertreter weitere Wege für den Datenaustausch zwischen CAE und PLS, schon allein um auch kleineren Anbietern langfristig den Marktzugang zu ermöglichen. Eine Namur-Schnittstelle - aber: "Wir wollen keine weitere Datenbank", führt Thomas Scherwietes von Evonik in einem weiteren Plenumsvortrag aus. Datencontainer sollen den Transport übernehmen und an alle Systeme, die Daten liefern oder benötigen andocken. Excel-Listen haben wohl ausgedient. Das neue Datenaustauschformat der Namur wird XML werden, festgelegt in der neuen Namurempfehlung NE 150.

Dann kommt Thomas Tauchnitz. Es gibt wohl wenige Besu-cher, die den Namur-Vorstand, Automatisierungsexperte bei Sanofi Aventis, noch nicht erlebt haben, wenn er komplexe Problemstellungen durch einen Vortrag greifbar macht. Er ist in Bestform. "Für Industrie 4.0 brauchen wir integriertes Engineering - und jetzt wollen Sie von mir wissen, wie das geht." Kein zentraler Datentopf wie bei Comos - denn standardisiert werde der nie ganz verfügbar sein. Und Monopole seien Fortschrittsbremsen. Standardisierte Schnittstellen - ebenfalls nicht verfügbar. "Dann tragen wir Industrie 4.0 zu Grabe."

"Lassen Sie uns Industrie 4.0 zu Grabe tragen!" - kleine Provokation à la Tauchnitz

Tauchnitz wäre nicht Tauchnitz, wenn er das stehen lassen würde. Sechs Ideen lösen "sein Problem". XML ist eine davon. Nur die jeweils benötigten Daten übertragen. Standardisierte und nicht standardisierte Daten gemeinsam. Objektorientiert - und dabei für jede PLT-Stelle nur festlegen, was zu übertragen ist. Eine begrenzte Anzahlt weiterer Objekte. Wohl am wichtigsten Idee 5 und 6. Tauchnitz plädiert für eine schrittweise Standardisierung und meint: "Wir machen nichts falsch, wenn wir mit 80 Prozent Standardisierung bereits loslaufen und den Rest nacharbeiten. Das ist besser als erst einmal Grundlagenforschung zu treiben - und dadurch zu lange zu warten." Punkt 6 schließlich bildet seine Idee eines kooperativen Standardisierungsansatzes. Tauchnitz bittet ohne viel Umstände die Senior Manager der wichtigsten Anbieter sowie Vertreter von ZVEI, VDMA, Bitcom und Namur an einen Tisch, um die ersten Schritte zu gehen.

Tauchnitz wäre nicht Tauchnitz, wenn seinen Worten nicht sofort Taten folgten: Am selben Abend noch sitzen seine "Wunschkandidaten" erstmals an einem Tisch. Die Initiative für die kooperative Standardisierung wird von vielen Schultern getragen, nicht allein von der Namur. Die alte Excel-Welt, mit der sich Ingenieure in vielen Prozessindustrie-Unternehmen heute noch behelfen, darf wohl bald untergehen. Und die Namur-Hauptsitzung 2013 lässt hoffen: Die Zeiten, in denen Anwender und Hersteller gegeneinander gearbeitet haben, könnten in der Prozessindustrie ein für alle Mal vorbei sein.

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