Fachbeitrag Schritt für Schritt zum Smart Grid

11.12.2012

Die Herausforderungen, vor denen vor allem ein Verteilnetzbetreiber steht, sind bekannt. Aber wie nähert man sich dieser komplexen Aufgabe? Die Erkenntnisse aus vielen Smart-Grid-Forschungsprojekten wurden nun konsolidiert und in ein strukturiertes Einführungsmodell überführt.

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Die Ziele zur Integration der erneuerbaren Energien sind ambitioniert. Die im Folgenden beschriebenen Lösungsansätze fokussieren vor allem auf das Mittel- und Niederspannungsnetz und damit auf die Integration des geplanten Photovoltaik-Zuwachses (PV). Sie skizzieren ein exemplarisches Vorgehen mit Perspektive des Verteilnetzbetreibers.

Schritt 1: Ist-Diagnose und Simulationen

Auch wenn es zunächst trivial oder selbstverständlich erscheint: Bevor Pläne zu Smart Grids und dem Einbau entsprechender technischer Komponenten begonnen werden, sollte eine zielgerichtete Analyse des Mittel- und Niederspannungsnetzes auf Basis der Netztopologie und Betriebsmittel erfolgen. Nur so lassen sich neuralgische Punkte im Netz identifizieren, die durch den Einbau von permanenter oder temporärer Messtechnik näher analysiert werden müssen.

Die Abbildung Spannungsverlauf zeigt beispielhaft, wie im Rahmen einer Voranalyse oder Beratungsphase ABB hierzu ein Niederspannungsnetz modelliert hat. Mit Software-Tools kann die aktuelle Situation im Sinne einer Grenzwertbetrachtung visualisiert werden. Anhand dieser Vorberechnungen werden kritische Punkte identifiziert, um für jeden Einzelfall oder Netzbereich die richtigen Schritte definieren zu können. Darüber hinaus kann neben der Ist-Netzanalyse auch ein Blick nach vorne gerichtet werden. Hierbei wird in den „Was-wäre-wenn“-Untersuchungen der zukünftige Ausbau mit dezentralen PV-Anlagen betrachtet. Bei den Untersuchungen nimmt man an, dass an jeden Hausanschluss eine PV-Anlage mit einer Einspeiseleistung von 8 kWp angeschlossen ist. Über einen Skalierungsfaktor der Einspeiseleistung wird die Durchdringung mit diesen PV-Anlagen in den betrachteten Niederspannungsnetzen simuliert. Die Tabelle zeigt das Ergebnis einer solchen Szenario-Analyse. Demnach wird die maximal zulässige Spannungsabweichung und/oder Trafoauslastung erreicht, wenn die durchschnittliche PV-Durchdringung der einzelnen Ortsnetzgebiete circa 50 Prozent erreicht, also an jeden zweiten Hausanschluss eine 8-kWp-Anlage angeschlossen ist. In diesem Beispiel ist die thermische Belastung der Betriebsmittel nicht der begrenzende Faktor. Andere Beispiele zeigen jedoch, dass die maximale Durchdringung mit dezentralen Erzeugungsanlagen längst erreicht ist, was zu Rückspeisungen in die Mittelspannungsebene führt.

Schritt 2: Vertrauen ist gut. Analyse ist besser!

Nachdem die kritischen Netzabschnitte im Rahmen der Grenzwertbetrachtungen identifiziert wurden, wird in den betreffenden Ortsnetzstationen Messtechnik installiert, um genauer verfolgen zu können, inwieweit und in welchem Ausmaß es zum Rückspeisen in die überlagerte Netzebene kommt und wie sich der Spannungsverlauf verhält. Mit den Messwerten kann der Verteilnetzbetreiber künftige Pläne zum PV-Ausbau oder zum Instandhalten genauer berechnen und zum anderen Grad und Zeitpunkt der Rückspeisung und Auslastung des Trafos bestimmen. Im Idealfall können zudem an großen Einspeise- oder Verbrauchspunkten im Verteilnetz zusätzlich einzelne „intelligente“ Zähler verbaut werden. Damit erhält der Betreiber auf Basis von Messwerten Transparenz über Lastflüsse und Spannungszustände oder Betriebsmittelauslastung im Niederspannungsnetz. In der Abbildung auf Seite162 dargestellt ist ein solches mit Messwerten versehenes Beispielnetz, das auf einen Blick verschiedene Aussagen zur aktuellen Auslastung der Betriebsmittel zulässt. Auch wenn die Abbildung eine zukünftige Situation darstellt (siehe Schritt 4), kann das Softwarepaket Neplan auch die Ist-Situation darstellen. Die einzelnen Spannungsverläufe sind in verschiedenfarbigen Schichten dargestellt: hellrot kennzeichnet die größte Überspannung, in diesem Beispiel durch größere Erzeugungsanlagen am Ende des Netzstranges. Mit diesem Hilfsmittel kann - ausgehend von der eher theoretischen Grenzwertermittlung - nun geplant werden, an welchen Stellen im Netz ein weiterer Ausbau oder welche konkrete Maßnahmen sinnvoll sind, anstatt pauschal alle Ortsnetzstationen mit Messtechnik zu versehen. Ebenso kann auf der Basis dieser Echtdaten-Analyse der sowohl weitere mögliche Zubau an dezentralen Erzeugungsanlagen als auch größere Abnahmestellen wie Ladesäulen oder Wärmepumpen genauer geplant werden als es bisherige planerische Ansätze ermöglichen.

Schritt 3: Optimieren der Betriebsführung

Nachdem die einzelnen neuralgischen Punkte im Netz identifiziert sind, stellt sich die Frage, wie die Spannung gehalten oder die Betriebsmittel optimiert werden können, ohne Erzeuger abzuschalten oder Lasten durch Anreize zu verschieben. Dies kann einerseits durch den idealerweise großflächigen Einsatz von Blindleistung im Niederspannungsnetz geschehen. Diese scheinbar einfache Lösung wirkt sich aber wiederum auf den Blindleistungsaustausch im Mittelspannungsnetz aus beziehungsweise an der Übergabestelle an die nächst höhere Spannungsebene. Wie unsere Untersuchungen zeigen, wird dadurch die Problematik der Spannungsbandverletzung im Niederspannungsnetz nur auf die nächst höhere Ebene verlagert und macht hier beispielsweise den Einbau einer Blindleistungskompensation am Umspannwerk notwendig. Neben dem konventionellen Einspeisemanagement und damit dem Abschalten der regenerativen Energie, besteht die zweite Möglichkeit darin, das maximal ausschöpfbare Spannungsband durch Einsatz spannungsregelnder Einheiten im Verteilnetz zu nutzen.

Der Spannungsregelung in der Ortsnetzstation von ABB beispielsweise entkoppelt die Spannungen der Mittel- und Niederspannungsebene, sodass - im Praxistest belegt - die Anzahl der integrierbaren Photovoltaik-Anlagen im Niederspannungsnetz deutlich erhöht werden kann. Durch Trennen der Spannungsebenen können die gesamten ±10 Prozent Spannungsabweichung je Spannungsebene ausgenutzt werden, während im Normalfall ohne regelbaren Ortnetztransformator die Spannungsschwankung im Mittelspannungsnetz mit berücksichtigt werden muss und somit nur ±5 Prozent zur Verfügung stehen.

Im Rahmen des mit dem Hessischen „Smart Energy Award“ ausgezeichneten Projektes „Netze für die Stromversorgung der Zukunft“ wurden erstmalig leistungselektronische, spannungsregelnde Einheiten (PCS 100 AVR) von Seiten der ABB in einem Verteilungsnetz eingesetzt und mit der RWE Deutschland gemeinsam evaluiert. Der Vorteil der spannungsregelnden Einheit AVR in der Ortsnetzstation gegenüber der heutzutage in der übergeordneten Umspannstation etablierten Stufenschaltertechnologie ist vor allem die Regelgeschwindigkeit und -genauigkeit. Die Regelgenauigkeit ist durch die stufenlose Regelung begründet.

Neben der beschriebenen Regelperformance muss beim AVR aufgrund fehlender Schalthandlungen wie bei Stufenschaltern keine Rücksicht auf das Schaltspiel genommen werden. Der AVR verfügt über einen modularen Aufbau, sodass die Einheit entsprechend der lokalen Erfordernisse des Netzbetreibers problemspezifisch und optimal dimensioniert werden kann. So wurde im Demonstrationsnetz des Projektes neben mehreren Niederspannungseinheiten mit Bemessungsleistungen von 160 bis 400kVA auch eine 20-kV-Einheit mit einer Bemessungsleistung von 8MVA zentral in das Mittelspannungsnetz integriert und erfolgreich getestet. Die AVR-Mittelspannungseinheit verfügt über das Potenzial, zahlreiche regelbare Ortsnetzstationen zu substituieren. Integriert in dieser Art der Lösung ist ebenfalls eine Kommunikationseinheit, sodass das Einbinden der Messwerte und Visualisieren innerhalb bestehender Leittechnik möglich ist.

Schritt 4: Engpässe erkennen und DSM

Sind bereits heute oder absehbar die Auslastungsgrenzwerte zum Beispiel der Leitungen zwischen den Netzanschlussknoten erreicht, hilft auch der Austausch durch einen regelbaren Ortsnetztrafo nur bedingt oder temporär. Anstatt beispielsweise einzelne Leitungen auszutauschen, wurde im Forschungsprojekt Meregio (Minimum Emission Regions) ein marktkonformer Prozess zum Identifizieren und Ausschreiben von Lastverschiebepotenzialen im Niederspannungsnetz konzipiert und im realen Netz erprobt [3]. Dem Verteilnetzbetreiber kommt dabei die Aufgabe zu, die Engpässe zu prognostizieren und über einen Marktplatz Lastverschiebepotenziale auszuschreiben. Die notwendigen Fahrplandaten zum Erkennen eines Engpasses werden entweder selbst erstellt (Erzeugungs- und Lastprognose) oder werden von den Endkunden oder Aggregatoren geliefert.

Die in dem Network Manager (SCADA/Distribution Management System - DMS) von ABB konsolidierten Daten werden kontinuierlich ausgewertet und prognostizierte Engpässe auf den Netzknoten genau für einen Zeitraum von bis zu sechs Stunden erkannt.

In der Abbildung Engpässe wird deutlich, wie mit Hilfe des Network-Managers jeder beliebige Zeitpunkt in den nächsten sechs Stunden analysiert werden kann beziehungsweise automatisch die zu erwartenden Engpässe auf Basis der Fahrplandaten identifiziert und visualisiert werden. Im Beispiel sind mehrere Engpässe identifiziert worden: zum einen eine zu hohe Spannung direkt an den beiden Einspeisepunkten am Ende des Netzstranges, zum anderen eine teilweise Leitungsüberlastung, ebenfalls in der Abbildung streckenweise rot dargestellt. Die Kenntnis über zukünftige Ereignisse kann entweder vom Netzbetreiber für manuelle Schaltungen oder Einspeisemanagement verwendet werden oder - wie im Projekt Meregio realisiert - über einen automatisierten Prozess auf einen Marktplatz zum Vermeiden ausgeschrieben werden. In diesem Fall würden zuvor abgefragte Lastverschiebepotenziale der angeschlossenen Demand-Side-Manager oder Aggregatoren über einen Angebots- und Auswahlprozess eingekauft werden und über einen neuen Fahrplan wiederum für eine Korrektur der Situation im Network-Manager sorgen. Sollte es zu keinem Angebot über den Marktplatz kommen - etwa weil keine Verschiebepotenziale vorhanden sind oder weil diese Potenziale auf dem Energiebeschaffungsmarkt mehr wert sind - wird sich mit Annähern an den Engpass die Priorität erhöhen, bis es im Zeitpunkt kurz vor dem Engpass und der Stufe „Prio Null“ zu keinem weiteren Verhandeln kommt und der vertraglich gebundene Demand-Side-Manager abschalten muss. Sollte auch dieser Prozess ohne Erfolg bleiben, hat der Verteilnetzbetreiber immer noch die letzte Möglichkeit, direktes Einspeisemanagement zu betreiben, in dem Sinne also die Anlage abzuschalten.

Eine wirtschaftliche Lösung

Wie bereits eingangs beschrieben, gibt es nicht die Lösung für ein Smart Grid oder der Energiewende an sich, da sich die Topologie, Belastungen und Rahmenbedingungen je nach Netzgebiet sehr stark unterscheiden. In der aktuellen Situation der stark erhöhten Anfragen der Endkunden nach Photovoltaik-Anschlüssen vor allem im Niederspannungsbereich ist es heute oftmals Realität, dass dem Verteilnetzbetreiber zu wenig Zeit für eine ausführliche Analyse bleibt. Sehr oft wird daher ohne weitere Analysen das Netz konventionell verstärkt. Durch das schrittweise Vorgehen und die strukturierte und lösungsorientierte Herangehensweise „analysieren - messen - regeln“ kann mithilfe der vorgestellten Werkzeuge nun zusammen mit dem Verteilnetzbetreiber eine wirtschaftliche Lösung für den Umbau des Energiesystems entwickelt werden.

Weitere Informationen

[1] Benz, Borchard: Spannungsregelung im Verteilnetz, Energy 2.0-Kompendium 2012, S. 184-186

[2] Borchard, Gwisdorf, et al : Spannungsregelungsstrategien für Verteilungsnetze, EW - Das Magazin für die Energiewirtschaft, Heft5, Februar 2011, S. 42-46

[3] Prof. Dr. Jochen Kreusel: Vielversprechendes Erfolgscontracting, Energy 2.0, Ausgabe 5/2012, S. 16 ff

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