Prüfung der EMV Das Risiko im Auge behalten

EMV-Halle: Zum Prüfen der elektromagnetischen Verträglichkeit sollte auch die spätere Umgebung der Produkte analysiert und mitbetrachtet werden.

Bild: Eurofins Product Service
17.10.2016

Eine neue Norm stellt Methoden zum risikobasierten Planen, Durchführen und Dokumentieren von EMV-Prüfungen an aktiven Medizinprodukten vor. Die hier ausgewählten Aspekte sollen Interessierten anderer Produktfelder Impulse für eigene angepasste Methoden geben.

Die elektromagnetische Verträglichkeit (EMV) muss für viele elektrische Produkte vor Markteintritt nachgewiesen werden. Die dieser Prüfung zugrundeliegenden allgemeinen EMV-Normen – zum Beispiel CISPR 11 oder IEC 61000-4-2 – beschreiben die Anforderungen produktübergreifend und verweisen zum konkreten Ausgestalten der Rahmenbedingungen oft auf Produktnormen, für aktive Medizinprodukte etwa auf die DIN EN 60601-1-2. Selbst hier werden die Methoden zum Festlegen eines konkreten Testplans nur allgemein dargelegt und führen nicht notwendigerweise zu einer transparenten und rückverfolgbaren Herleitung der Prüfbedingungen. Das führt dazu, dass Hersteller die Norm häufig starr auslegen. Die Basisnorm für Medizinprodukte (IEC 60601-1) fordert jedoch in Abschnitt 17, Gefährdungen aus elektromagnetischen Phänomenen risikobasiert zu betrachten.

Abkehr von starr festgelegten Prüfkriterien

Ein Bezug zu den sektoralen Vorgaben zum Risikomanagement (DIN EN ISO 14971:2013:2013-04) wurde seitens der EMV-Prüfnorm DIN EN 60601-1-2:2007 bisher nicht hergestellt. Im Folgenden wird auf den risikobasierten Ansatz der am 13. Mai 2016 harmonisierten DIN EN 60601-1-2 für medizinische elektrische Geräte eingegangen, die auch für andere Produktsektoren als Muster zur risikozentrierten EMV-Prüfung dienen kann. In der bisher unter der Richtlinie 93/42/EWG (Medical Device Directive) harmonisierten Norm DIN EN 60601-1-2 – nachfolgend die „alte Norm“ genannt – wurde der von der Basisnorm DIN EN 60601-1:2013-12 geforderte risikobasierte Ansatz nicht konkret aufgegriffen. Im Ergebnis wurden die in dieser Norm zumeist starr festgelegten Prüfkriterien und Grenzwerte in den Prüfungen der elektromagnetischen Verträglichkeit häufig unreflektiert übernommen. Dies führte dazu, dass einzelne anwendungsbezogene Risiken nicht angemessen wirksam beseitigt wurden. Als Beispiel wird in der Norm eine am Körper getragene Insulinpumpe genannt, die die normativ geforderte ESD(Electrostatic Discharge)-Prüfung bei 15 kV bestanden hat. Trotzdem kam es im Gebrauch zu einem Ausfall ohne Alarm, was zu Schäden bei Patienten führte. Diese Ausfälle konnten auf die Auswirkungen von ESD-Phänomenen zurückgeführt werden. Erst die Erhöhung des Störfestigkeitslevels auf 30 kV verhinderte weitere ESD-bedingte Ausfälle in der Anwendung.

Das Beispiel verdeutlicht die Wichtigkeit der Ermittlung und Festlegung der realen Umgebungsbedingungen vor der Prüfung, um Risiken zu minimieren. Erste Ansätze liefern dazu einige produktbezogene Normen wie zum Beispiel die DIN EN 60601-2-31 für externe Herzschrittmacher, die konkrete und für die herrschenden Umgebungsbedingen angepasste Prüfvorgaben festlegt.

Risiken von EMV-Phänomenen betrachten

Im Gegensatz zum relativ starren Konzept der alten Norm, fordert die DIN EN 60601-1-2:2016-05 – nachfolgend die „neue Norm“ genannt – zwingend eine Risikobetrachtung von EMV-Phänomenen. Diese vom Hersteller anzufertigende Dokumentation ist Bestandteil der Risikomanagementakte und liefert eine rückverfolgbare Begründung der Prüfbedingungen und -kriterien. Nachfolgend werden einige ausgewählte Aspekte dieser Norm dargestellt. Für tiefergehende Betrachtungen sei hier auf die Ausführungen in der Norm selbst verwiesen.

Die Risikomanagementakte ist seit der Einführung der Basis-Norm DIN EN 60601-1-2:2007-12 für aktive Medizinprodukte integraler Bestandteil der Prüfdokumentation, ohne die eine Prüfung nicht abgeschlossen werden kann. Der bestehende Verweis in Abschnitt 17 auf die EMV in der Risikomanagementakte war schon seit der ersten Ausgabe der Basis-Norm vorhanden, wurde aber in der alten Norm nicht aufgegriffen. Diese Lücke schließt die neue Norm. Im Umkehrschluss muss man aber alle aus EMV-Phänomenen herrührenden Gefährdungen und Gefährdungssituationen hinsichtlich ihres Risikos – Auftrittswahrscheinlichkeit in Kombination mit einer Schadensauswirkung – bewerten. In der Konsequenz ändern sich aber auch die Sichtweise und die Begründung zu den durchzuführenden Prüfungen. Formulierte die alte Norm formal Anforderungen an das Produkt, werden nach der neuen Norm Risikominderungsmaßnahmen verifiziert, die das ermittelte Risiko minimieren sollen. Wesentlicher Unterschied dabei ist, dass sich die Bewertung nicht allein auf das Produkt selbst bezieht, sondern die Umgebung in einer Umgebungsanalyse berücksichtigen muss. Um Gefährdungen für Patienten, Anwender und Dritte abschätzen zu können, muss man die gemäß der Zweckbestimmung des Gerätes vorhandene Umgebung analysieren. Die neue Norm liefert dazu zwei vordefinierte Umgebungsbedingungen, die als Basis für die meisten real vorhandenen Bedingungen dienen. Es wird zwischen einer Umgebung in professionellen Einrichtungen des Gesundheitswesen und einer Umgebung in Bereichen der häuslichen Gesundheitsfürsorge unterschieden. Alle Bereiche, die nicht von diesen Beiden umfasst werden – zum Beispiel Bereiche zur medizinischen Behandlung mit Medizinisch-Elektrischen(ME)-Geräten hoher Leistung –, werden als besondere Umgebung eingeordnet und gesondert betrachtet. Die Beschreibung der Anwendungsbedingungen kann zum Beispiel in die Dokumentation der Gebrauchstauglichkeit nach DIN EN 60601-1-6 integriert werden.

Das Port-Modell (Tor-Modell) beschreibt das Produkt gemäß den Festlegungen in IEC 61000-6 anhand von fünf Ports: Patientenanschluss, Signaleingangs- beziehungsweise Signalausgangsleitungen (SIP/SOP), Wechsel- und Gleichstromanschluss sowie Umhüllung. Bezogen auf die vorhandenen Ports und die ermittelten Umgebungsbedingen beschreibt die Norm konkret die durchzuführenden Prüfungen sowie die standardmäßig einzuhaltenden Grenzwerte. Sie liefert damit eine Anleitung zur Spezifikation der Prüfung, die unter Berücksichtigung spezifischer Risiken und Umgebungsbedingungen gegebenenfalls erweitert werden muss. Der risikobasierte Ansatz der neuen Norm passt sich in die Vorgehensweise der Basisnorm nahtlos ein. Die vorhandenen Schnittstellen sind rückverfolgbar dokumentiert und für Zulassungsstellen oder benannte Stellen einfacher bewertbar. Gleichzeitig liefert die neue Norm mit dem Portmodell, den geforderten Umfeldanalysen und den in der Norm beschriebenen Prüfverfahren gute Werkzeuge, um als Hersteller die Prüfung zu planen und die dazugehörige Dokumentation vorzubereiten.

Auf der anderen Seite muss sich der Hersteller intensiver und interdisziplinärer mit den Rahmenbedingungen der EMV auseinandersetzen als bisher. Die beschriebenen Inhalte können nur aus einer Gesamtsicht der Anwendung erarbeitet werden, was bei der alten Norm häufig nicht nötig war. Insofern wird die neue Norm den Anforderungen an Medizinprodukte im Sinne einer Vermeidung von Risiken für Patienten, Anwender und Dritte sicherlich besser gerecht, fordert aber vom Hersteller eine intensivere Auseinandersetzung mit den vorhandenen EMV-Phänomenen.

Ansatz für andere Produktsektoren

Die aktuelle, seit dem 13.05.2016 harmonisierte Norm für die Prüfung der EMV von aktiven Medizinprodukten liefert eine ausgestaltete Vorgabe zur risikozentrierten Prüfung und Bewertung. Dabei sind die Normforderungen zur Wirksamkeitsüberprüfung von ergriffenen Risikobeherrschungsmaßnahmen zu verstehen. Diese lassen sich an die Rahmenbedingungen anpassen, wobei die Norm für ausgewählte Standardbedingungen bereits Parametersätze enthält. Da sowohl in anderen Produkt- als auch in den Managementsystemnormen zunehmend risikobasierte Ansätze integriert und gefordert werden, könnte die Vorgehensweise als Startpunkt für Konzepte in anderen Produktsektoren dienen.

EMV-Normen für aktive Medizinprodukte

  • DIN EN 60601-1:2013-12 Medizinische elektrische Geräte – Teil 1: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale.

  • DIN EN 60601-1-2:2007 Medizinische elektrische Geräte – Teil 1-2: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Elektromagnetische Verträglichkeit – Anforderungen und Prüfungen

  • DIN EN 60601-1-2:2016-05 Medizinische elektrische Geräte – Teil 1-2: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Elektromagnetische Störgrößen – Anforderungen und Prüfungen

  • DIN EN ISO 14971:2013:2013-04 Medizinprodukte – Anwendung des Risikomanagements auf Medizinprodukte

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